Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
zwei Jahre in Sibirien. Er suchte das letzte Gefängnis der Romanows auf und fotografierte den Keller, in dem die Familie samt den letzten verbliebenen Gefolgsleuten von den Bolschewiken erschossen worden war, und er fand die Überreste der Scheiterhaufen, auf denen man ihre sterblichen Überreste verbrannt hatte. Da ihm der Heimweg westwärts durchs kriegsversehrte Europa verwehrt war, fuhr er mit Alexandra Teglewa, der Gouvernante der Zarentöchter, die er seit Jahren heimlich geliebt hatte, immer weiter ostwärts durch Sibirien bis nach Wladiwostok und von dort mit dem deutschen Passagierschiff Kronprinzessin Cäcilie, das die USA als Flüchtlingstransporter requiriert hatten, über Japan und Panama bis nach Triest, wo sie am 9. August 1920 eintrafen. Pierre Gilliard heiratete Alexandra Teglewa und führte sein Studium zu Ende, wurde Professor in Lausanne und starb am 30. Mai 1962 kurz nach seinem dreiundachtzigsten Geburtstag.
12 Fritz Zwicky
In jenem Jahr 1904, in dem Isabelle Eberhardt in der Sahara ertrank und Pierre Gilliard im Orientexpress nach Russland fuhr, reiste in entgegengesetzter Richtung von Sofia über Belgrad, Budapest und Wien ganz allein ein sechsjähriger Junge nach Zürich, den die Eltern für die dreitägige Fahrt vertrauensvoll der Obhut des Schaffners übergeben hatten. Fritz Zwicky war der Sohn eines Schweizer Baumwollhändlers, der seit vielen Jahren Geschäfte in Bulgarien machte und seinen Erstgeborenen nun nach Glarus zu den Großeltern an die Burgstraße 57 schickte, damit ihm an einer Schweizer Schule bei Schweizer Lehrern eine gut schweizerische Ausbildung zuteil werde. Freundliche Menschen und großartige Berge hätten ihn einigermaßen für die Trennung von den Eltern entschädigt, schrieb Fritz Zwicky ein halbes Jahrhundert später in seinen Lebenserinnerungen. Derart früh zu seelischer Selbständigkeit gezwungen, entwickelte er sich zu einem selbstbewussten, zielstrebigen Burschen, der nicht anders konnte, als in allem immer schneller, immer weiter, immer höher hinauszuwollen. In der Schule hatte er vom ersten Tag an nur Bestnoten, und in der Freizeit spielte er mit Polizisten und Holzfällern Karten, las Indianerbücher und Nietzsche und unternahm bald erste Bergtouren auf eigene Faust; manchmal saß er mit Freunden auf einer Parkbank im Volksgarten und philosophierte, wobei er meist als Einziger redete und die anderen ihm beeindruckt zuhörten. Für Fritz war es unverständlich, dass irgendjemand auf der Welt irgendetwas nicht kapieren konnte; trotzdem half er seinen Schulkameraden bereitwillig und geduldig bei den Hausaufgaben. Mit fünfzehn Jahren war er im Städtchen berühmt dafür, dass er den Lehrern knifflige Fragen stellte, welche diese nicht beantworten konnten, er selbst aber schon. Das blieb auch so, als er ans Gymnasium nach Zürich wechselte. Im Stenographieunterricht gab er sich nicht damit zufrieden, einfach nur Buchstaben und Silben zu kürzen, sondern erfand Kürzel für Tausende von Wörtern, dann auch Symbole für stereotype Sätze, wie sie die Menschen nun mal von sich geben, und schließlich sogar Zeichen für ganze Abfolgen von Sätzen.«Auf diese Weise schlachtete ich die Sprache zusammen», schrieb er,«dass ich mit 17 Jahren zum schweizerischen Meister in deutscher und französischer Stenographie aufrückte.»Die Matura bestand er ohne Anstrengung mit 82,5 von 84 möglichen Punkten – das hatte in der hundertfünfzigjährigen Geschichte der Schule noch niemand erreicht.
1917 ging er an die Eidgenössische Technische Hochschule ETH, um bei Auguste Piccard und Albert Einstein Physik zu studieren – aber auch das füllte ihm die Tage nicht richtig aus. Einmal bemerkte er gegenüber Einstein, der gerade stark mit der Krümmung von Raum und Zeit beschäftigt war,«dass er wohl auf diese Art kaum weiterkommen würde. In der Tat deutete ich an, dass, wenn ich etwas Glück hätte, es mir eher selbst vielleicht gelingen könnte, aus allgemeinen Prinzipien die nötigen Feldgleichungen sowie allerlei konkrete Einzelresultate abzuleiten und Entdeckungen und Erfindungen zu machen». Einstein habe«ob solcher Überheblichkeit eines Studenten aus dem kleinen, dunklen Bergkanton Glarus»gutmütig gelacht, fügte Zwicky hinzu.
Nach dem Studienabschluss erhielt er eine Stelle als Assistent am Physikalischen Institut der ETH und schrieb eine Doktorarbeit über die Reißfestigkeit von Steinsalz-Einkristallen bei unterschiedlichen Temperaturen – und weil ihm auch
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