Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
eine weitere Lektion, nachmittags dann eine Schlitten- oder Autofahrt in die nähere Umgebung, bevor es von sechzehn bis neunzehn Uhr noch einmal zum Unterricht ins Studierzimmer ging.
Getreulich folgte Gilliard im Lauf der Jahreszeiten den rituellen Wanderungen der Romanows: Den Sommer verbrachte er mit ihnen in Peterhof oder auf Kreuzfahrt im Finnischen Golf an Bord der Standart, der kaiserlichen Yacht; im Herbst und im Frühling fuhr man nach Jalta, winters nach Tsarkoje-Selo, der Zarenresidenz südlich von Sankt Petersburg, wo schon hundert Jahre vor Gilliard Jean-Paul Marats jüngerer Bruder David als Französischlehrer am Gymnasium gewirkt und den halbwüchsigen Alexander Puschkin in französischer Literatur unterrichtet hatte.
Was nun die vier Mädchen betraf, so merkte Gilliard rasch, dass sie zwar gutmütige, lebenslustige und offenherzige Wesen, aber keine guten Schülerinnen waren. Die erstgeborene Olga sei zwar«intelligent und schneidig wie ein entlaufenes Pferd», berichtete er seiner Mutter, aber alle vier seien ziemlich faul und nur schwer davon zu überzeugen, dass Bildung für ihr weiteres Leben unabdingbar nötig sei. Weiter machte er die Beobachtung, dass die Königskinder bei aller Warmherzigkeit einen gewissen Hang zu Leichtigkeit und Oberflächlichkeit hatten in der Gewissheit, dass ihnen ihr ganzes Leben lang alle Menschen und Sachen selbstverständlich zur Verfügung stehen würden. Die schlechten schulischen Leistungen der Prinzessinnen machte dem Hauslehrer aber niemand zum Vorwurf; denn im Palast herrschte unausgesprochene Einigkeit darüber, dass für die Mädchen die Paukerei ohnehin ein Ende hätte, wenn sie an europäische Königshäuser heirateten. Im Gespräch waren der Prinz von Wales und der rumänische Thronfolger.
Richtig ernst wurde es erst, als am 12. August 1912 der Zarewitsch seinen achten Geburtstag feierte und nun ebenfalls alt genug für die Schule war. Pierre Gilliard gab seine Wohnung in Sankt Petersburg auf, bezog eine Zimmerflucht im Alexanderpalast neben den Gemächern des Prinzen und machte sich an die Aufgabe, diesen zu einem würdigen Thronfolger zu erziehen. Alexej war noch immer ein blasses, kränkliches Bürschchen, das rund um die Uhr von zwei Matrosen bewacht und überallhin getragen wurde, als wäre er noch ein Säugling und könne nicht gehen, und dem man beim geringsten Unwohlsein große Mengen Aspirin verabreichte; noch nie hatte er auch nur eine Sekunde lang unbewacht spielen, einen Flur entlangrennen, auf einen Stuhl klettern können. Gilliard beobachtete, dass der kleine Prinz seine beiden Bewacher neckte, indem er absichtlich ins Wasser fiel oder sich in den Stallungen versteckte. Unter der ständigen Überwachung war er zu einem kapriziösen Kind herangewachsen, das keinerlei Disziplin kannte und Widerspruch nur schwer ertrug.«In seinen Augen hatte man mich hergeschickt», notierte Gilliard,«ihm Arbeit aufzubürden, den Willen zu brechen und ihn zu Gehorsam zu zwingen.»
Bald aber entdeckte er, dass sich«unter dem kapriziösen kleinen Wesen ein Kind mit einem großen, liebenden Herzen verbarg». Die größte Gefahr erwachse ihm, so sein Lehrer weiter, gerade aus der lückenlosen Fürsorge, die«aus dem gebrechlichen Kind einen Menschen ohne Charakter und ohne Selbstbeherrschung macht. Dem Thronfolger droht nicht nur körperliche, sondern auch moralische Behinderung».
Pierre Gilliard legte Alexejs Eltern dar, dass es im Interesse des Knaben, des Königshauses und ganz Russlands liege, den Zarewitsch zu einem reifen, selbstverantwortlichen Mann zu erziehen und ihm eine gründliche Kenntnis der Welt, des Volkes und der Menschen zu vermitteln – aus ihm also sozusagen einen mündigen Bürger zu machen. Erstaunlicherweise hieß das Herrscherpaar diese republikanische Pädagogik gut und ließ Gilliard in allem freie Hand – vielleicht, weil Zar Nikolaus II. selbst als Kind eine Erziehung erfahren hatte, die ihn in einer entrückten Welt zu einem weltfremden und lebensuntüchtigen Menschen geformt hatte.
Als Erstes schaffte Gilliard die jahrhundertealte Sitte ab, dass vor dem Zarewitsch jeder Besucher auf die Knie fallen musste. Der Prinz war glücklich darüber, denn die dauernde huldvolle Grüßerei war ihm lästig gewesen. Als Zweites ließ er die ständigen Bewacher aus dessen Umgebung entfernen, und als Drittes sorgte er dafür, dass der Bub zum ersten Mal in seinem Leben gleichaltrige Spielkameraden erhielt.
Natürlich bargen die neuen
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