Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Am Abend meuterte die Garnison von Tsarskoie-Selo, keine zwei Kilometer vom Zarenpalast entfernt, und in den Straßen wurde geschossen. Pierre Gilliard stand mit der Zarin am Fenster und beobachtete, wie die Leibgarde aufmarschierte und sich schützend vor den Palast stellte. Da klingelte das Telefon – jemand berichtete, die Meuterer seien im Anmarsch und hätten fünfhundert Meter vom Palast entfernt einen Wachposten erschossen. Kurze Zeit später standen die Leibgarde und die Aufständischen einander beidseits des Eingangsportals gegenüber. Die Nacht verging ereignislos in Erwartung eines Blutbads. Weitere zwei Tage später dankte Zar Nikolaus II. ab, und am Morgen des 21. März stellte die provisorische Regierung die Romanows unter Hausarrest. Alle Gefolgsleute und Hausangestellten, die nicht mit in Gefangenschaft gehen wollten, hatten den Alexanderpalast bis sechzehn Uhr zu verlassen.
Pierre Gilliard blieb, und mit ihm eine Handvoll Diener und Lakaien. Auf Wunsch der Zarin übernahm er die Aufgabe, dem Zarewitsch die jüngsten Ereignisse zu erklären. « Ich ging also zu Alexej Nikolajewitsch», schreibt er in seinem Lebensbericht,«und sagte ihm, dass der Zar am folgenden Tag heimkommen und nicht mehr zum Generalstab zurückkehren werde.
‹Wieso nicht?›, fragte der Zarewitsch.
‹Weil Ihr Papa nicht länger Oberkommandierender sein möchte.›
Diese Nachricht verstörte ihn sehr, denn die Ausflüge zum Generalstab hatten ihm immer sehr gefallen. Nach einer Weile fügte ich hinzu: ‹Wissen Sie, Alexej Nikolajewitsch, Ihr Vater will auch nicht mehr Zar sein.›
Er schaute mich erstaunt an. ‹Wie? Weshalb?›
‹Weil er sehr müde ist und weil er in letzter Zeit große Schwierigkeiten gehabt hat.›
‹Ach ja! Maman hat mir erzählt, dass jemand seinen Zug angehalten hat, als er auf dem Heimweg war! Aber später wird er doch wieder Zar sein?›
Ich erklärte ihm, dass der Zar zugunsten seines Bruders abgedankt habe, der aber auf den Thron verzichte.
‹ Aber wer wird dann Zar sein?›
‹Ich weiß es nicht, im Augenblick niemand.›
Kein Wort über ihn, nicht die geringste Anspielung auf seine Ansprüche als Thronfolger. Die Röte steigt dem Jungen ins Gesicht, er ist tief bewegt. ‹Aber wer wird dann Russland regieren, wenn es keinen Zar mehr gibt?›
Um 16 Uhr wurde die Palastpforte verschlossen, und wir waren Gefangene. Die Soldaten vor dem Schloss waren nun nicht mehr unsere Beschützer, sondern unsere Bewacher. »
Fünf Monate lang teilte Gilliard mit der Zarenfamilie die Gefangenschaft im Alexanderpalast. Nachdem die Zarenkinder von den Röteln genesen waren, nahm er den Unterricht wieder auf. Um sich die Zeit zu vertreiben, legte die Familie auf einem weitläufigen Rasen einen Gemüsegarten an; der Zar grub mit Gilliard die Erde um, die Zarin jätete Unkraut, die Töchter bewässerten die Beete, indem sie eine durchlöcherte Regentonne auf zwei Rädern durch den Garten zogen. Am 15. Juni vermerkte Gilliard in seinem Tagebuch stolz:«Wir haben alles mögliche Gemüse und fünfhundert Kohlköpfe.»Dann ging er mit Nikolaus ins Gehölz des Schlossparks, um trockenes Holz für den Winter zu schlagen.«Wir sind allmählich ganz geschickte Holzfäller. Das gibt einen schönen Holzvorrat für den Winter!»
Noch vor dem Herbst aber, am 14. August um sechs Uhr morgens, mussten die Romanows ihr herrschaftliches Gefängnis auf Befehl der Revolutionäre verlassen. In fünftägiger Fahrt wurden sie nach Tobolsk in Sibirien gebracht und in der ehemaligen Gouverneursresidenz untergebracht, wo sie neun Monate lang unter scharfer Bewachung lebten. Pierre Gilliard unterrichtete die Kinder, so gut es ging. Anfang Winter baute er ihnen in tagelanger Arbeit einen baumhohen Schneehügel, den sie hinunterrutschen konnten. Als der Frühling kam, brachten die Soldaten sie wieder zur Eisenbahn. Gilliard wollte wie üblich mit den Zarenkindern in der ersten Klasse reisen, wurde von den Soldaten aber derb in die vierte Klasse bugsiert. Als der Zug am 22. Mai um neun Uhr morgens in Ekaterinenburg hielt, sah er seine Schützlinge ein letztes Mal. Als Erster zog der Zarewitsch an seinem Fenster vorbei. Er war krank und musste von einem Diener getragen werden. Dann folgten Olga, Tatjana, Anastasja und Maria, alle beladen mit schweren Koffern; Tatjana trug zusätzlich ein kleines Hündchen auf dem Arm.«Ich wollte aussteigen, wurde aber vom Wächter brutal in den Wagen zurückgestoßen.»
Pierre Gilliard blieb noch
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