Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Freiheiten auch Gefahren, für die Gilliard allein die Verantwortung trug; und tatsächlich dauerte es nicht lang, bis der Zarewitsch von einer Schulbank stürzte, auf die er im Übermut gestiegen war. Es folgten Schmerzen, Blutsturz, langwierige Rekonvaleszenz – aber keine Vorwürfe seitens der Eltern, die bemerkt hatten, wie sehr ihr Jüngster unter Gilliards Erziehung aufgeblüht war.
In Frage gestellt wurden Gilliards Methoden erst, als Rasputin im Alexanderpalast auftauchte, der eine allrussische Mystik predigte und Europa, die Aufklärung und die Wissenschaften aufs Heftigste verdammte. Die Zarin nannte ihn vertraulich«Notre Ami»und beriet sich mit ihm in allen familiären und religiösen Angelegenheiten, und auch der Zar musste auf Verlangen der Zarin die wichtigsten Regierungsgeschäfte mit Rasputin besprechen. Gilliard begegnete dem legendenumrankten Mann nur einmal in einem Vorzimmer, als dieser gerade seinen Gehpelz ablegte.«Er war ein großgewachsener Mann mit hohlen Wangen und stechend graublauen Augen unter buschigen Brauen. (…) Während des Moments, da unsere Blicke sich kreuzten, hatte ich die Empfindung, einem beunruhigend bösen Wesen gegenüberzustehen. »
Argwöhnisch beobachtete Gilliard, wie Rasputin, der in ganz Russland als unersättlicher Wüstling berühmt war, die Zarentöchter abends, als sie schon im Nachthemd waren, in ihren Zimmern besuchte, und hilflos musste er mit ansehen, wie er den kranken Zarewitsch mit Gebeten, Gesängen und allerhand okkulten Ritualen behandelte. Kopfschüttelnd nahm er zur Kenntnis, dass die Zarin auf Anweisung Rasputins alle modernen Medikamente aus dem Krankenzimmer entfernen ließ – und zähneknirschend musste er zugeben, dass sich wenig später Alexej Nikolajewitschs Zustand tatsächlich erheblich besserte. Aus heutiger Sicht scheint es gut möglich, dass es der Verzicht aufs Aspirin war – dessen blutverdünnende, für Bluter lebensgefährliche Wirkung die Ärzte damals noch nicht kannten -, der zur wundersamen Heilung führte.
Kurz vor Alexej Nikolajewitschs zehntem Geburtstag brach der Erste Weltkrieg aus, und die Herrscherfamilie musste für einige Zeit nach Moskau umziehen, wo die kriegstrunkenen Menschenmassen ihren Zaren zu sehen verlangten. Während der endlosen Aufmärsche und Fahnenweihen fuhr Gilliard mit dem Zarewitsch hinauf auf den Mönchsberg.«Hier oben stand Napoleon am 14. September 1812 und betrachtete Moskau, bevor er die Stadt betrat», notierte Gilliard. Zurück im Alexanderpalast, besorgte er sich eine Karte des Generalstabs, lieh sich das Automobil des Zaren aus und fuhr mit dem Thronfolger hinaus in die Umgebung. Auf ihren Ausfahrten trafen der Lehrer und sein Schüler Bauern, Handwerker und Eisenbahnarbeiter und unterhielten sich mit ihnen, ohne dass diese ahnten, wen sie vor sich hatten; und wenn es Gilliard unterwegs gelang, die Palastwachen abzuschütteln, die ihnen stets diskret zu folgen versuchten, jauchzte der Kleine vor Vergnügen.
Im zweiten Kriegsjahr fuhren Gilliard und der Zarewitsch lange Wochen mit dem Zaren an die Front. Sie inspizierten Truppen in Reichweite feindlicher Geschütze, besuchten Lazarette, U-Boot-Flottillen am Baltischen Meer und Kosakenverbände im Kaukasus. Am 16. Dezember 1915 aber musste der Zarewitsch kräftig niesen, woraus lebensgefährliches Nasenbluten entstand, das erst drei Tage später gestillt werden konnte. Die Zarin, die Rasputin telegraphisch um wunderheilende Gebete ersucht hatte, schrieb die Genesung deren Zauberkraft zu.
Am 10. März 1917 machte im Alexanderpalast die Nachricht die Runde, dass es in den Arbeitervierteln Sankt Petersburgs Hungerrevolten gebe, die die Polizei blutig niederschlage. Am 11. März erfuhr man, dass sich der Aufstand ins Stadtzentrum ausgedehnt habe. Am 12. März erhielt Gilliard einen Telefonanruf aus der Hauptstadt, wonach mehrere Garderegimenter zu den Aufständischen übergelaufen seien. Und als er am Morgen des 13. März wie üblich um halb zehn Uhr zum Zarewitsch wollte, der wie seine Schwestern an Röteln erkrankt war und mit hohem Fieber im Bett lag, nahm ihn die Zarin beiseite und trug ihm auf, alles für einen raschen Aufbruch vorzubereiten, da Sankt Petersburg in der Hand der Revolutionäre sei. Befehle wurden gegeben, Koffer gepackt. Bevor aber das erste Gepäckstück zum Automobil getragen werden konnte, brachte der Hausarzt die Nachricht, dass die Aufständischen alle Eisenbahnlinien besetzt hielten und eine Flucht unmöglich sei.
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