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Himmelstiefe

Himmelstiefe

Titel: Himmelstiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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ich sollte das Wasser berühren. Es war frisch, ganz normales frisches Wasser. Friedlich und leise plätscherte es an den Strand.
    „Ich bin nicht Wasser. Das wäre doch alles viel zu viel“, beharrte ich.
    „Erinnere dich daran, wie du in diesem See fast ertrunken bist“, wies Jerome mich an.
    Alles sträubte sich in mir. Ich wollte mich nicht daran erinnern. Zumindest nicht hier, direkt am See. Ich hatte auf einmal Angst, allein die Erinnerung könnte mich wieder in seine Tiefen ziehen.
    „Die Reise hier her ist für die meisten die Schlüsselsituation, um die Kontrolle über das jeweilige Element zu erlangen. Erinnere dich daran. Sobald die Wellen zu hoch werden, hören wir auf.“
    Ich sah Jerome nicht an und schüttelte nur den Kopf.
    Also fing Jerome an, mir meine Reise hierher in allen Einzelheiten zu schildern, als hätte er sie selbst erlebt. Ich wollte weg, aber er griff nach meinem Handgelenk und hielt mich fest, als ich im Begriff war, aufzuspringen, um loszurennen. Meine schlimmen Erinnerungen an die unheimliche Grotte, die Minuten in dem Boot und meinen Untergang stiegen auf und ergriffen von mir Besitz. Ich begann zu zittern. Jerome beschrieb alles mit leiser und eindringlicher Stimme. Es war, als würde ich jede Sekunde noch einmal erleben. Doch die Wasserfläche vor uns blieb glatt wie ein Spiegel. Stattdessen gab es einen kleinen Erdrutsch vom Felsenvorsprung, dicht neben uns. Erde rieselte ins Wasser und auf uns herab. Wir sprangen zur Seite und klopften uns die Sachen ab. Jerome sah mich verwirrt an.
    „Das machst du mit Absicht.“
    „Ich habe Wasser eben unter Kontrolle“, witzelte ich. Aber Jerome fand das nicht witzig. Er sah mich forschend an.
    „Aber du hast gestern diese Welle erzeugt, die sich gegen Fabian richtete.“
    „Ich weiß nicht. Vielleicht war ich es gar nicht.“ Innerlich war ich irgendwie erleichtert. Meine Doppelbegabung Erde und Feuer brachte mich schon genug in Schwierigkeiten. Eine Affinität zu Wasser musste nicht auch noch sein.
    „Vielleicht …“, überlegte Jerome.
    „Aber vielleicht auch nicht. Dann müssen wir eben ins Wasser hinein“, beschloss er.
    Ich trat ein paar Schritte vom Ufer zurück und rief entschlossen:
    „Nein!“
    Jerome sah mich erstaunt an.
    „Aber du musst ins Wasser, wenn du das Element beherrschen willst.“
    „Ich will es gar nicht beherrschen. Ich hab mit Wasser nichts zu tun. Du siehst es doch.“
    „Ich bin noch nicht sicher“, antwortete Jerome.
    „Ich gehe nicht freiwillig ins Wasser. Ich mag Wasser nicht.“
    „Okay, du bist traumatisiert. Wir müssen vielleicht noch nicht heute …“
    „Es ist nicht wegen meiner Reise hierher …“
    Ich biss mir auf die Lippen. Ich hatte zu viel gesagt. Jerome würde nun nachbohren.
    „Weswegen dann?“
    Okay, ich erzählte ihm, wie Delia mich als kleines Kind einmal fast ertrinken ließ, dass ich inzwischen zwar trotzdem schwimmen konnte, mich aber im Wasser einfach nicht wohlfühlte. Jerome hörte sich die Geschichte an und wirkte nachdenklich.
    „Vielleicht reicht es auch für heute.“ Endlich schien er es begriffen zu haben. Dann setzte er aber nach. „Wir gehen das mit dem Wasser morgen noch mal an.“
    Jerome machte sich auf den Weg Richtung Wald. Ich stand da und sah ihm entgeistert nach. Ich wollte aufbegehren. Ich begriff nicht, warum Jerome auf Wasser bestand, wenn meine schlimmsten Gefühle das Wasser kalt ließen. Wollte er, dass ich ein Wunderkind war? Alle Lehrer erzogen gerne Wunderkinder. Ich wollte aber keins sein. Es brachte mich nur in Gefahr. Ich atmete tief aus, holte ihn ein, aber beließ es erst mal dabei. Ich musste das morgen noch mal mit ihm ausdiskutieren. Es war schon kurz nach zwölf. Jeromes Bemühungen, mich im Training von Tim abzubringen, hatten nicht viel gebracht. Tim war mein erster Gedanke, als Jerome sich am magischen See von mir verabschiedete. Jetzt wollte ich unbedingt zu Pio. Bestimmt hatte er Antworten, die auf mich warteten.
    ***
    Pio empfing mich auf die gleiche Weise wie beim ersten Mal. Er bat mich mit vornehmer Geste hinein, zeigte mir seine größte und beste Murmel, erklärte mir, dass er sie täglich um 17 Uhr einmal durch den Raum rollte, führte mich an den Schreibtisch mit dem Rechner und brachte mir ein Glas Orangensaft.
    „Sie haben drei Nachrichten“, sagte er. Dann ließ er mich allein.
    Ich öffnete erwartungsvoll den Posteingang. Mein Herz machte einen Sprung. Die erste Mail war von Tim. Die zweite von meinem Vater.

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