Himmelstiefe
Augen ganz dicht vor mir, kleine strahlende grüne Punkte tanzten darin, seine Haarsträhne kitzelte an meiner Wange. Seine Lippen berührten meine. Ich weiß nicht, wer schuld daran war. Er küsste mich erst sanft, dann leidenschaftlich. Ich küsste ihn zurück, obwohl ich nicht wollte. Aber ich konnte mich nicht losreißen. Sein Sog war so stark, sein Duft benebelte mich. Er war eine Macht, die mich besiegte. Ich lag mit dem Rücken auf dem Teppich. Er hielt meine Handgelenke fest. Kleine Flammen züngelten aus den Schlaufen des Teppichs. Wir wälzten uns darin, aber wir fingen kein Feuer. Ein riesiges NEIN saß plötzlich wie ein Betonklotz in meinem Magen fest. Ich befreite meine Handgelenke, riss meine Lippen von seinen los und brachte ihn mit dem Rücken auf den Teppich. Jetzt hielt ich seine Handgelenke nach unten gedrückt, aber hatte trotzdem das Gefühl, dass ich diejenige war, die gefesselt war. Das NEIN stieg hoch in meine Kehle und wollte raus. Ich würgte. Seine grünen Augen funkelten mich an. Er sah wunderschön aus. Aber ich kannte jemanden, den ich lieber küssen wollte. Ich rappelte mich hoch, stürmte die Treppen hinunter und hoffte, dass er mich nicht einholte. Ich rannte weg von seinem Haus, in den Wald hinein, wo er mich nicht finden konnte. Ich rannte in die Dunkelheit, stolperte über Äste, fiel hin, rappelte mich auf, aber fiel wieder hin … Ich blieb einfach liegen und lauschte. Nichts. Nur das Rauschen meines Atems vom Rennen und der Blätter von einem leichten Wind. Er war mir nicht gefolgt. Ich versuchte, mich wieder zu beruhigen. Wie konnte das nur passieren? Was hatte er mit mir gemacht? Warum hatte er sich zu mir herüber gebeugt? Bestimmt wollte er gar nichts aus dem Regal holen. Er hatte seine Masche durchgezogen und ich war drauf reingefallen. Weil jeder auf ihn reinfiel. Ich war so dumm. Aber ich war abgehauen, immerhin. Mir liefen Tränen über die Wangen. Ich setzte mich auf und wischte sie trotzig ab. Warum hatte ich mich gegen seinen Arm gelehnt? Es gab nur eine Erklärung. Es war die Sehnsucht nach Tim. Auf einmal sehnte ich mich so sehr nach ihm, dass mein ganzer Oberkörper wehtat, als wollte er zerspringen. Ich untersuchte mein Shirt. Es war seltsam. Ich hatte keinen einzigen Brandfleck, dabei hatten wir uns in Flammen gewälzt.
Ich sprang auf. Ich wollte über das alles nicht nachdenken. Ich wollte nicht. Ich wollte … aus meiner Haut! Unter mir bebte plötzlich die Erde. Ein paar brennende Äste fielen herunter. Ich schützte mich mit meinen Armen. Der Boden unter mir war entfesselt. Ich suchte verzweifelt irgendwo nach Halt. Um mich tobte ein Sturm aus brennenden Erdklumpen. Heiße Sandkörner trieben mir in die Augen. Ich hielt mich an einem Baumstamm fest, aber er schien mit mir zu kippen, immer weiter nach links. Plötzlich fing es in Strömen an zu regnen. Ich fiel auf die Erde und riss den Baum mit mir. Jemand löste meine Arme und zog mich mit roher Kraft weg. Ich wollte schreien, aber mein Gesicht landete im Schlamm und nahm mir den Atem. Dann spürte ich gar nichts mehr. Mein Bewusstsein verließ mich und ich sackte weg.
***
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bett. Neve saß neben mir und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Draußen war alles ruhig.
„Was ist passiert?“ Ich blinzelte sie an.
„Das wollte ich dich eigentlich fragen. Mit ganzen Bäumen um sich zu schlagen. Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“ Sie sah mich vorwurfsvoll an.
„Ich glaube schon“, antwortete ich und sank zurück in die Kissen, schrak aber sofort wieder hoch, als ich Jeromes Stimme hörte. Was machte Jerome hier? Und wer war noch alles im Raum?
„Neve, würdest du uns einen Moment allein lassen?“
„Ja, klar …“, antwortete Neve und verließ den Raum.
Okay, es war nur Jerome. Leo war nicht dabei. Ich versuchte, mich wieder aufzurichten, aber ich war schwer wie Blei. Ich konnte kaum meine Hände heben.
„Sorry, ich habe dir ein Beruhigungsmittel gegeben. Es ging nicht anders. Du warst völlig außer dir. Und das nur wegen Leo?“
Ich brachte ein schwächliches „Pfff“ zustande. Meine Zunge wollte nicht so richtig mitarbeiten.
„Ich weiß nicht, was er mit mir … Er ist ein arroganter Vollidiot …“, verteidigte ich mich.
Jerome sah mich ernst an, als erwarte er Erklärungen. Was sollte ich Jerome sagen? Es war alles so peinlich.
„Ich will … nach Hause …“, gab ich trotzig hinterher wie ein Schulkind im Ferienlager und
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