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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Art –
    »Was ist das bloß, verdammt noch mal?«, schrie Chantal.
    Was immer es war, es war ziemlich effektiv. Juckpulver hätte keine so dramatische Wirkung gehabt. Aber ich konnte nicht richtig sehen, was sich eigentlich abspielte. Es standen zu viele Leute herum,und die Schlange hatte sich in ein Knäuel verwandelt, weil natürlich alle wissen wollten, was los war.
    Ich wollte es nicht wissen. Ich wusste es schon.
    Plötzlich hatte ich nur noch einen Wunsch: Ich wollte zu Zozie. Sie würde wissen, was ich tun musste. Und sie würde mich nicht ausquetschen. Ich hatte keine Lust, auf den Bus zu warten, also nahm ich die Metro und rannte von der Place de Clichy nach Hause. Ich war völlig außer Atem, als ich in den Laden kam. Maman war in der Küche und machte Rosette etwas zu essen. Und ich schwöre, Zozie wusste schon Bescheid, noch bevor ich den Mund aufmachte.
    »Was ist los, Nanou?«
    Ich schaute sie an. Sie trug Jeans und ihre Bonbonschuhe, die noch röter und höher und strahlender aussahen als sonst, mit diesen glitzernden Absätzen. Als ich die Schuhe sah, ging es mir gleich besser, und mit einem Seufzer der Erleichterung ließ ich mich in einen der rosaroten Leopardensessel plumpsen.
    »Wie wär’s mit einer Schokolade?«
    »Nein, danke.«
    Sie goss mir eine Cola ein. »So schlimm?«, fragte sie, während sie zuschaute, wie ich das Glas in einem Zug leerte – so schnell, dass mir Bläschen aus der Nase kamen. »Hier, trink noch ein Glas. Und dann sagst du mir, was los ist.«
    Ich erzählte ihr alles, aber leise, damit Maman mich nicht hören konnte. Ich musste meine Geschichte zweimal unterbrechen, einmal, weil Nico mit Alice hereinspazierte, und dann noch einmal, als Laurent kam, um einen Kaffee zu trinken, und fast eine halbe Stunde blieb und sich darüber beschwerte, was im Le P’tit Pinson alles gemacht werden musste und wie unmöglich man in dieser Jahreszeit einen Klempner bekommen konnte, und dann natürlich das Immigrantenproblem und überhaupt sämtliche Themen, die zu seiner Litanei gehören.
    Als er endlich ging, war es Zeit, den Laden zu schließen, und Maman machte Abendessen. Zozie löschte die Lichter im Laden, so dass man das Adventshaus noch besser sehen konnte. Der Rattenfängerwar weg und durch einen Chor von Schokoladenengeln ersetzt worden, die im Zuckerschnee sangen. Es sieht wunderschön aus. Aber das Haus selbst ist immer noch ein Rätsel. Geschlossene Türen, zugezogene Vorhänge und nur ein einziges Licht, das aus der Dachkammer leuchtet.
    »Darf ich reingucken?«, fragte ich.
    »Vielleicht morgen«, sagte Zozie. »Kommst du mit hoch? Dann können wir in Ruhe weiterreden.«
    Langsam folgte ich ihr die Treppe hinauf. Auf den schmalen Stufen machten die Bonbonschuhe mit diesen sagenhaften Absätzen klack, klack, klack, als würde jemand an die Tür klopfen und mich bitten, ja, anflehen, ihn einzulassen.

8

    D ONNERSTAG , 6 . D EZEMBER
    Heute Morgen hängt der Nebel wie ein Segel über Montmartre, schon den dritten Tag in Folge. Für morgen oder übermorgen hat man uns Schnee versprochen, aber heute ist die Stille irgendwie unheimlich, die normalen Verkehrsgeräusche und die Schritte der Passanten auf dem Kopfsteinpflaster werden vom Nebel verschluckt. Es ist wie vor hundert Jahren, und aus dem Dunst ragen drohende Geister in langen Mänteln –
    Es könnte auch der Morgen meines letzten Schultags sein, der Morgen, an dem ich mich von St. Michael’s-on-the-Green emanzipierte und begriffen habe, dass das Leben – dass jedes Leben – nichts weiter ist als ein unnützer Brief im Wind, den man aufheben, mitnehmen, verbrennen oder wegwerfen kann, je nachdem, was die Umstände erfordern.
    Du wirst das noch früh genug lernen, Anouk. Ich kenne dich besser als du selbst. Hinter der Fassade des braven Mädchens verbirgt sich ein enormes Potenzial für Wut und Hass, genau wie bei jenem anderen Mädchen, das auch immer Es sein musste – bei dem Mädchen, das ich war –, vor vielen, vielen Jahren.
    Aber alles braucht einen Katalysator. Manchmal genügt eine Kleinigkeit, ein Lufthauch, ein Fingerschnippen. Manche Piñatas sind hartnäckiger als andere. Aber jede hat ihren Schwachpunkt. Und wenn die Büchse einmal geöffnet ist, kann man sie nicht wieder schließen.
    Mein Katalysator war ein Junge. Er hieß Scott McKenzie. Er war siebzehn, blond, sportlich, mustergültig. Er war neu in St. Michael’s-on-the-Green,sonst hätte er ja von vornherein Bescheid gewusst und wäre dem

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