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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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warum hätte der Wind euch wegpusten sollen?«
    Anouk zuckte die Achseln. »Das tut er eben.«
    »Welches Lied habt ihr gesungen?«
    Sie sang es für mich. Es ist ein altes Lied, ein Liebeslied, glaube ich, melancholisch, ja, traurig. Vianne singt es immer noch – ich höre sie manchmal, wenn sie es für Rosette singt oder wenn sie in der Küche die Kuvertüre verarbeitet.
    V’là l’bon vent, v’là l’joli vent
    V’là l’bon vent, ma mie m’appelle –
    »Ich verstehe«, sagte ich. »Und jetzt hast du Angst, du könntest den Wind aufwecken.«
    Sie nickte bedächtig. »Es ist dumm. Ich weiß.«
    »Nein, es ist nicht dumm«, entgegnete ich. »Die Menschen denken das seit Hunderten von Jahren. In der englischen Sage wecken die Hexen den Wind, indem sie sich die Haare kämmen. Die Aborigines glauben, dass der gute Wind Bara ein halbes Jahr von dem bösen Wind Mamariga gefangen gehalten wird, und jedes Jahr müssen sie ihn mit ihrem Gesang befreien. Und was die Azteken betrifft –« Ich lächelte sie an. »Die Azteken haben die Macht des Windes auch sehr genau verstanden – der Atem des Windes bewegt die Sonne und vertreibt den Regen. Ehecatl heißt dieser Wind, und sie haben ihn mit Schokolade verehrt.«
    »Aber – haben sie nicht auch Menschenopfer dargebracht?«
    »Tun wir das nicht alle, jeder auf seine Art?«
    Menschenopfer. Was für ein bleischwerer Begriff. Aber ist es nicht genau das, was Vianne Rocher getan hat – hat sie nicht ihre Kinder den fetten Göttern der Zufriedenheit geopfert? Wünsche verlangen ein Opfer – das wussten die Azteken besser als wir. Auch die Maya wussten es. Sie kannten die schreckliche Gier der Götter, ihren unstillbaren Hunger nach Blut und Tod. Und sie verstanden die Welt viel besser, könnte man sagen, als die Beter in Sacré Cœur, in diesem riesigen weißen Heißluftballon oben auf der Butte . Und wenn man die Glasur von Kuchen kratzt, stößt man auf das gleiche dunkle, bitter schmeckende Innere.
    Denn wurde nicht auch Sacré Cœur auf Angst aufgebaut, Stein für Stein? Ist das Fundament der Kirche nicht die Furcht vor dem Tod? Und die Bilder von Christus, der sein Herz bloßlegt – unterscheiden sie sich so grundsätzlich von den Bildern der Herzen, die den dargebrachten Opfern aus der Brust gerissen wurden? Und ist das Ritual des Abendmahls, bei dem man das Blut und den Leib Christi gemeinsam verzehrt, weniger grausam und abstoßend als all die anderen Opferriten?
    Anouk mustert mich mit weit aufgerissenen Augen.
    »Es war Ehecatl, der den Menschen die Fähigkeit zu lieben schenkte«, fuhr ich fort. »Er war es, der unserer Welt Leben einhauchte. Der Wind war den Azteken sehr wichtig, wichtiger als der Regen, sogar noch wichtiger als die Sonne. Denn Wind bedeutet Veränderung, und ohne Veränderung geht die Welt zugrunde.«
    Sie nickte, wie eine kluge Schülerin, und das ist sie ja auch. Mich überschwemmte eine bedenkliche Welle der Zuneigung, eine schon fast zärtliche Anteilnahme – beunruhigend mütterlich –
    Oh, nein, ich laufe nicht Gefahr, den Kopf zu verlieren. Aber es macht mir Freude, mit Anouk zusammen zu sein, ihr etwas beizubringen, ihr die alten Geschichten zu erzählen. Ich weiß noch genau, wie hingerissen ich war, als ich das erste Mal nach Mexiko-Stadt gefahren bin: die Farben, die Sonne, die Masken, die Ge sänge, dieses Gefühl, endlich nach Hause zu kommen –
    »Du kennst doch die Formulierung – der Wind der Veränderung ?«
    Wieder nickte sie.
    »Tja, das ist es, was wir sind. Menschen wie wir. Menschen, die den Wind wecken können –«
    »Aber ist das nicht falsch?«
    »Nicht immer«, erwiderte ich. »Es gibt gute Winde und schlechte Winde. Du musst dich entscheiden, das ist alles. Tu, was du willst. So einfach ist das. Du kannst dich einschüchtern lassen, oder du kannst dich wehren. Du kannst mit dem Wind fliegen wie ein Adler, Nanou – oder du kannst zulassen, dass er dich wegbläst.«
    Lange sagte sie gar nichts, sondern saß reglos da, den Blick immer noch auf meine Schuhe gerichtet. Endlich hob sie den Kopf.
    »Woher weißt du das alles?«
    Ich grinste. »Na ja – ich bin in einem Buchladen aufgewachsen, bei einer Hexe.«
    »Und du bringst mir bei, wie man den Wind nutzen kann?«
    »Natürlich. Wenn du es willst.«
    Wieder schwieg sie und starrte auf meine Schuhe. Eine Lichtperle löste sich von dem Absatz und zerplatzte in tausend Prismen, die funkelnd an der Wand tanzten.
    »Möchtest du sie mal

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