Himmlische Wunder
sie mich alle miteinander vorführen wollten. Die beiden mussten sich so anstrengen, um nicht zu lachen, dass sie fast platzten.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Ich machte meine Stimme ganz neutral. Niemand weiß etwas von Rosette – jedenfalls dachte ich das bis heute. Aber dann fiel es mir wieder ein: Als Suze einmal bei uns war, haben wir mit Rosette im Laden gespielt –
»Das hat mir aber jemand erzählt«, sagte Danielle. »Dass deine Schwester behindert ist. Alle wissen das.«
So viel zum Thema beste Freundin, dachte ich. Samt dem pinkfarbenen Emailleanhänger und dem Versprechen, das sie mir gegeben hat, dass sie niemandem etwas erzählt, großes Indianerehrenwort –
Ich funkelte sie böse an, wie sie da stand mit ihrer neonpinken Mütze (Rothaarige dürfen niemals Neonpink tragen).
»Manche Leute sollten sich lieber um ihren eigenen Kram kümmern«, sagte ich so laut, dass alle mich hören konnten.
Danielle grinste hämisch. »Dann stimmt es also«, sagte sie, und ihre Farben leuchteten gierig, wie glühende Kohlen, wenn sie plötzlich Zugluft kriegen.
In mir brodelte es. Trau dich bloß nicht , sagte ich böse. Noch ein Wort –
»Klar stimmt es«, sagte Suze. »Ich meine – sie ist vier oder was, und sie kann noch nicht mal reden oder richtig essen. Meine Mutter sagt, sie ist ein Mongo. Und sowieso sieht sie auch aus wie ein Mongo.«
»Tut sie nicht«, sagte ich ruhig.
»Tut sie doch. Sie ist hässlich und behindert – genau wie du.«
Suze lachte. Chantal fing auch an zu kichern. Dann riefen sie im Chor – Mongo, Mongo –, und ich sah, wie Mathilde Chagrin mich mit ihren blassen, verängstigten Augen anstarrte, und plötzlich –
BAM !
Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Es ging so schnell – wie eine Katze, die gerade noch schläfrig geschnurrt hat, und eine Sekunde später faucht und kratzt sie. Ich weiß, dass ich mit den Fingern eine Teufelsgabel gemacht habe, so wie Zozie im Tea-Shop. Keine Ahnung, was ich damit eigentlich erreichen wollte, aber ich spürte, wie irgendetwas von meiner Hand lossauste, als würde ich tatsächlich etwas werfen, einen kleinen Stein oder eine rotierende Scheibe oder etwas, das brennt.
Jedenfalls kam die Wirkung prompt. Ich hörte, wie Suzanne aufschrie. Dann riss sie sich plötzlich ihre neonpinke Mütze vom Kopf.
»Au! Au!«
»Was ist los?«, wollte Chantal wissen.
»Es juckt so!«, jaulte Suze. Sie kratzte sich wie verrückt am Kopf, ich sah rote Hautstellen unter den spärlichen Haaren. »Meine Güte, wie das juckt!«
Mir wurde auf einmal übel, ich fühlte mich ganz zittrig, so wie neulich abends bei Zozie. Aber das Schlimmste war, dass es mir überhaupt nicht leidtat, im Gegenteil, ich fand es irgendwie aufregend, so, wie wenn etwas Schlimmes passiert, und du bist schuld, aber niemand weiß es.
»Was ist los?«, fragte Chantal noch einmal.
»Keine Ahnung!«, schrie Suzanne.
Danielle machte ihr besorgtes Gesicht, aber es war wieder geheuchelt, so wie vorhin bei mir, bevor sie fragte, ob Rosette behindert ist, und Sandrine gab ganz komische Quiektöne von sich, ob aus Mitleid oder vor Aufregung, konnte ich nicht sagen.
Dann begann Chantal, sich am Kopf zu kratzen.
»Hast du Nissen?«, fragte Claude Meunier.
Die Leute hinten in der Schlange lachten.
Jetzt fing Danielle auch an, sich zu kratzen.
Es war, als hätte jemand eine Tüte Juckpulver auf die vier geworfen. Juckpulver – oder etwas Schlimmeres. Chantal machte erst ein bitterböses Gesicht, dann bekam sie Angst. Suzanne wurde richtig hysterisch. Und einen Moment lang hatte ich ein supertolles Gefühl –
Dann tauchte eine Erinnerung auf. Ich war noch ganz klein. Ein Tag am Meer, ich planschte im Badeanzug herum. Maman mit einem Buch am Strand. Ein Junge, der mich mit Salzwasser anspritzte, so dass meine Augen brannten. Als er vorbeiging, warf ich einen Stein nach ihm, einen kleinen Kiesel. Ich dachte nicht, dass ich ihn treffen würde –
Es war nur ein Unfall –
Der Junge schrie, hielt sich den Kopf. Maman kam zu mir gerannt, wütend, erschrocken. Dieser schreckliche Schock – ein Unfall –
Bilder von Glasscherben, ein aufgeschlagenes Knie, ein streunender Hund, der winselnd unter einem Bus kauert.
Das sind Unfälle, Nanou.
Langsam wich ich zurück. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Es war komisch – so wie etwas Schlimmes manchmal komisch sein kann. Und es fühlte sich immer noch toll an, auf diese schauerliche
Weitere Kostenlose Bücher