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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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die Achseln. »Na ja, wenn Sie darauf bestehen –«
    Ich lächelte. »Wie schön.«
    »Das Kleid steht Ihnen übrigens ausgezeichnet, wenn ich das mal sagen darf, Madame Charbonneau.«
    »Nennen Sie mich doch Yanne.«
    Er verbeugte sich wieder. Ein Hauch von Haaröl und Schweiß stieg mir in die Nase. Und ich fragte mich: Ist es das, was Zozie tut, Tag für Tag, während ich Pralinen mache? Ist das der Grund, weshalb wir so viele Kunden haben?
    Eine Dame in einem türkisgrünen Mantel, auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken. Ihre Lieblingssorte sind Karamellpralinen, und ich sage es ihr, ohne einen Moment zu zögern. Ihr Mann wird sich bestimmt über meine Aprikosenherzen freuen, und ihre Tochter mag meine vergoldeten Chilischokoecken …
    Was ist nur los mit mir? Was hat sich verändert?
    Auf einmal fühle ich mich wieder unternehmungslustig, voller Hoffnung, voller Selbstvertrauen. Ich bin nicht mehr ich selbst, sondern eher wieder Vianne Rocher, die vom Karnevalwind nach Lansquenet gepustet wurde.
    Das Windspiel draußen ist ganz still, der Himmel dunkel von dicken Schneewolken. Das unnatürlich milde Wetter, das wir diese Woche hatten, ist vorbei, und jetzt ist es kalt genug, dass der Atem kleine Rauchfahnen bildet, wenn die Passanten in grauen Kolonnen über den Platz ziehen. An der Ecke steht ein Straßenmusiker, ich höre die Klänge eines Saxofons, das melancholisch mit fast menschlicher Stimme Petite Fleur spielt.
    Ich denke: Er friert bestimmt.
    Das ist ein eigenartiger Gedanke für Yanne Charbonneau. Echte Pariser können sich solche Überlegungen nicht leisten. Hier in der Großstadt gibt es so viele arme Menschen, so viele alte, obdachlose Menschen, die sich wie Heilsarmeepakete in Ladeneingängen und in dunklen Gassen zusammenrollen. Sie alle frieren, sie alle haben Hunger. Echte Pariser interessiert das nicht. Und ich will eine richtige Pariserin sein.
    Aber die Musik spielt weiter. Sie erinnert mich an einen anderen Ort, an eine andere Zeit, und auch ich war damals eine andere, und die Hausboote auf dem Tannes lagen so dicht gedrängt, dass man fast von einer Seite des Flusses zur anderen laufen konnte. Es gab immer Musik, Stahltrommeln und Geigen, Pfeifen und Flöten. Für die Flussmenschen war die Musik das Lebenselixier, so schien es. Manche Dorfbewohner bezeichneten sie als Bettler, aber ich habe nie auch nur einen einzigen von ihnen betteln sehen. Damals hätte ich keine Sekunde gezögert …
    Du hast ein Talen t, sagte meine Mutter immer. Und Talente sind dafür da, dass man sie nutzt und weitergibt.
    Ich bereite ein Kännchen Schokolade, fülle einen Becher und bringe ihn dem Saxofonspieler – der verblüffend jung ist, nicht älter als achtzehn –, mit einem Stück Schokoladenkuchen. Es ist eindeutig die spontane Geste einer Vianne Rocher.
    »Ein Geschenk des Hauses.«
    »Oh, danke!« Sein Gesicht leuchtet auf. »Sie kommen sicher von der Chocolaterie ? Ich habe schon von Ihnen gehört. Sie heißen Zozie, stimmt’s?«
    Ich lache. Ein bisschen zu laut vielleicht. Das Lachen fühlt sichbittersüß und seltsam an, wie alles an diesem seltsamen Tag, doch der Saxofonspieler scheint es nicht zu merken.
    »Haben Sie einen Musikwunsch?«, fragt er mich. »Ich spiele, was Sie wollen. Ein Geschenk des Hauses«, fügt er grinsend hinzu.
    »Ich –« Ich bin unsicher. »Kennen Sie V’là l’bon vent ?«
    »Ja, klar.« Er greift zu seinem Saxofon. »Speziell für Sie, Zozie.«
    Und als er anfängt zu spielen, fröstelt es mich, aber nicht nur von der Kälte. Langsam gehe ich zurück zum Le Rocher de Montmartre , wo Rosette immer noch stillvergnügt auf dem Fußboden spielt, zwischen unzähligen Knöpfen in allen möglichen Formen und Farben.

12

    D IENSTAG , 18 . D EZEMBER
    Den Rest des heutigen Tages habe ich in der Küche verbracht, während sich Zozie um die Kunden kümmerte. Wir haben mehr Kundschaft als je zuvor und vor allem viel mehr, als ich allein bewältigen könnte. Ich bin froh, dass Zozie immer noch so gern aushilft, denn je näher Weihnachten kommt, desto stärker wird der Eindruck, dass halb Paris plötzlich Geschmack findet an selbst gemachten Pralinen.
    Der Kuvertürevorrat, von dem ich dachte, er würde bis nächstes Jahr reichen, war schon nach zwei Wochen aufgebraucht, und wir bekommen alle zehn Tage eine neue Lieferung, um mit der wachsenden Nachfrage mithalten zu können. Der Profit übertrifft alles, was ich je zu hoffen gewagt hätte, und Zozie sagt immer nur: Ich

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