Himmlische Wunder
hab’s doch gewusst, dass sich der Umsatz vor Weihnachten steigern wird , als gäbe es alle Tage solche Wunder …
Und wieder einmal staune ich, wie schnell sich alles verändert hat. Vor drei Monaten waren wir hier noch Fremde, Schiffbrüchige auf dem Felsen von Montmartre. Jetzt gehören wir dazu, genau wie das Chez Eugène oder das Le P’tit Pinson , und die Einheimischen, die nicht gedacht hätten, dass sie je einen Touristenladen betreten würden, kommen ein paar Mal in der Woche vorbei (manche sogar jeden Tag), trinken Kaffee oder Schokolade und essen ein Stück Kuchen.
Was hat uns verändert? Zuerst und vor allem natürlich die Pralinen. Ich weiß, dass meine selbst gemachten Trüffel tausendmal besser sind als alles, was industriell hergestellt wird. Die neue Ausstattungdes Ladens ist sehr viel freundlicher und einladender als vorher, und weil Zozie mir hilft, bleibt immer noch ein wenig Zeit, um sich hinzusetzen und zu plaudern.
Montmartre ist ein Dorf in der Großstadt und hat immer noch etwas sehr Nostalgisches, wenn es auch manchmal ein bisschen pseudo ist. Aber es gibt nach wie vor die engen Straßen und die alten Cafés und die ländlich anmutenden kleinen Häuser, die sommerlich weiß getüncht sind und sich mit falschen Fensterläden und leuchtenden Geranien in Terrakottatöpfen schmücken. Die Einwohner von Montmartre schweben über Paris, wo es nur so brodelt vor lauter Veränderungen, und sie fühlen sich manchmal so, als wohnten sie im letzten Dorf überhaupt, in einem Überbleibsel aus einer Zeit, als die Welt schöner und einfacher war, als man die Haustür nicht verschließen musste und jeder Schmerz, jedes Leid mit einem Stück Schokolade geheilt werden konnte.
Das ist alles nur eine Illusion, fürchte ich. Für die meisten Menschen hier hat es dieses goldene Zeitalter nie gegeben. Sie leben in einer Welt, die zum größten Teil aus Fantasie besteht, einer Welt, in der die Vergangenheit unter dem Wunschdenken verschwindet und die Leute schon fast an ihre eigene Fiktion glauben.
Man braucht sich nur Laurent anzusehen: Verbittert schimpft er auf die Immigranten, aber sein Vater war ein polnischer Jude, der während des Krieges nach Paris geflohen ist und seinen Namen geändert hat; dann hat er ein Pariser Mädchen geheiratet und war von nun an Gustave Jean-Marie Pinson, französischer als alle Franzosen, fest gemauert wie die Steine von Sacré Cœur.
Darüber redet Laurent natürlich nie. Aber Zozie weiß es, er muss es ihr erzählt haben. Und Madame Pinot mit ihrem silbernen Kruzifix und dem schmallippigen Lächeln, das immer vorwurfsvoll wirkt, und mit ihrem Schaufenster voller Gipsheiligen.
Sie ist gar keine Madame. Als sie jung war (behauptet Laurent, der es wissen muss), arbeitete sie als Tänzerin im Moulin Rouge und trug manchmal eine Nonnenhaube, Stöckelschuhe und ein schwarzes Satinkorsett, das so knapp saß, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Wohl kaum die Art von Vorgeschichte, dieman bei einer Verkäuferin frommer Souvenirs erwarten würde, und trotzdem …
Selbst unser hübscher Jean-Louis und sein Freund Paupaul, die mit so viel Geschick die Touristen an der Place du Tertre bearbeiten und die Damen dazu bewegen, sich von ihrem Geld zu trennen, indem sie jede mit furiosen Komplimenten und vieldeutigen Anspielungen überschütten. Man sollte denken, dass wenigstens diese beiden das sind, was sie zu sein vorgeben. Aber nein – keiner der beiden hat je einen Fuß in eine Galerie gesetzt, sie haben auch nie die Kunsthochschule besucht, und trotz ihres maskulinen Charmes sind sie schwul, nicht besonders ostentativ, aber so überzeugt, dass sie eine zivile Eheschließung planen – vielleicht in San Francisco, wo so etwas häufiger vorkommt und weniger streng gesehen wird.
Das behauptet jedenfalls Zozie, die über alle Details informiert zu sein scheint. Auch Anouk weiß mehr, als sie mir erzählt, und ich mache mir zunehmend Sorgen um sie. Früher hat sie mir alles erzählt, aber in letzter Zeit wirkt sie so hektisch und geheimnistuerisch, sie verkriecht sich stundenlang in ihrem Zimmer, verbringt ihre Wochenenden meistens mit Jean-Loup auf dem Friedhof, und abends redet sie mit Zozie.
Es ist ja normal, dass ein Kind in ihrem Alter mehr Unabhängigkeit sucht. Aber bei Anouk spüre ich diese abwehrende Vorsicht, eine Kälte, derer sie sich selbst vielleicht gar nicht bewusst ist. Das gefällt mir nicht. Es ist, als hätte sich zwischen uns etwas verschoben, ein
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