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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Verpflichtungen. Sie kann nicht mehr einfach tun, was sie will. Und immer, wenn sie dich ansieht, Nanou – na ja, vielleicht erinnert dein Anblick sie einfach zu sehr an alles, was sie aufgeben musste.«
    »Aber das ist nicht fair!«
    Zozie lächelte. »Niemand hat gesagt, dass es fair ist«, erwiderte sie. »Hier geht es um Kontrolle. Um Macht. Du wirst erwachsen. Du entwickelst deine Fähigkeiten. Du wächst aus dem Einflussbereichdeiner Mutter heraus. Das macht sie nervös, das jagt ihr Angst ein. Sie denkt, ich will dich von ihr wegholen, indem ich dir Dinge gebe, die sie dir nicht geben kann. Und deshalb muss ich gehen, Nanou. Ehe etwas passiert, was wir beide bereuen werden.«
    »Aber was ist mit dem Fest?«, fragte ich.
    »Wenn du willst, bleibe ich noch so lange.« Sie schlang die Arme um mich und drückte mich an sie. »Hör zu, Nanou. Ich weiß, es ist nicht leicht. Aber ich will, dass du etwas hast, was ich nie hatte. Eine Familie. Ein Zuhause. Ein eigenes Zimmer. Und wenn der Wind ein Opfer braucht, dann will ich das Opfer sein. Ich habe nichts zu verlieren. Und außerdem –« Sie seufzte leise. »Ich möchte mich ja nicht niederlassen. Ich will nicht mein ganzes Leben lang überlegen, was sich wohl hinter dem nächsten Hügel verbirgt. Ich wäre sowieso früher oder später aufgebrochen – also kann ich es genauso gut jetzt gleich machen.«
    Sie zog die Decke über uns beide. Ich presste die Augenlider ganz fest zusammen, weil ich nicht weinen wollte, aber ich spürte einen dicken Kloß in der Kehle, als hätte ich eine ganze Kartoffel verschluckt, ohne sie zu kauen.
    »Aber ich hab dich so gern, Zozie –«
    Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen (ich hatte die Augen immer noch geschlossen), aber ich hörte, dass sie tief seufzte – es war, als wäre die Luft ewig lange in einer versiegelten Schachtel gewesen oder unter der Erde –
    »Ich dich auch, Nanou«, sagte sie.
    So saßen wir ganz lange, auf dem Bett, unter der Decke. Draußen begann der Wind wieder zu wehen, und ich war froh, dass auf der Butte keine Bäume sind, denn so wie ich mich in dem Moment fühlte, hätte ich vielleicht gemacht, dass sie alle umstürzen, wenn das Zozie dazu gebracht hätte, bei uns zu bleiben, und ich hätte den Wind überredet, sich ein anderes Opfer zu suchen.

9

    S ONNTAG , 23 . D EZEMBER
    Was für ein Auftritt. Hab ich’s nicht gesagt? In einem anderen Leben hätte ich im Filmgeschäft ein Vermögen verdienen können. Auf jeden Fall habe ich Anouk auf meine Seite gezogen – die Samen des Zweifels gehen perfekt auf –, was mir an Heiligabend bei der Durchführung meines Planes helfen sollte.
    Ich glaube nicht, dass sie mit Vianne über unser Gespräch reden wird. Meine kleine Nanou behält vieles für sich, sie sagt nicht so schnell, was sie denkt. Und außerdem hat ihre Mutter sie enttäuscht, sie hat sie immer wieder belogen, und nun will sie auch noch ihre Freundin aus der Wohnung werfen –
    Anouk kann sich auch verstellen, wenn nötig. Heute wirkte sie ein bisschen verschlossen, aber ich glaube nicht, dass Vianne das bemerkt hat. Sie ist viel zu sehr mit den Vorbereitungen für das morgige Fest beschäftigt, um sich zu überlegen, warum ihre Tochter plötzlich nicht mehr so enthusiastisch ist, oder um sich selbst zu fragen, wo sie die ganze Zeit war, während im Backofen die Kuchen buken und der Glühwein auf dem Herd köchelte.
    Ich muss selbstverständlich auch noch mehrere Dinge regeln. Aber meine Projekte sind schwerpunktmäßig nicht kulinarisch. Viannes Magie – so weit es sie gibt – ist für meinen Geschmack viel zu häuslich. Denk nur nicht, ich würde nicht merken, was du tust, Vianne. Das Haus vibriert richtig vor kleinen Verlockungen: spezielle Leckereien mit Rosenaroma, Mirakel und Makronen. Und Vianne selbst – in ihrem roten Kleid und mit einer roten Seidenblume im Haar –
    Wem willst du etwas vormachen, Vianne? Warum bemühst du dich überhaupt, wenn ich doch alles so viel besser kann?
    Ich war den größten Teil des Tages gar nicht im Haus, weil ich Leute besuchen und Dinge erledigen musste. Heute habe ich alles entsorgt, was von meinen gegenwärtigen Identitäten noch übrig war, darunter auch Mercedes Desmoines, Emma Windsor und sogar Noëlle Marcellin. Ich muss zugeben, ein bisschen traurig hat es mich schon gemacht. Aber zu viel Ballast ist beschwerlich – und außerdem brauche ich sie alle nicht mehr.
    Danach musste ich verschiedenen sozialen Verpflichtungen

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