Himmlische Wunder
sie keinen Müll hinterlassen. Aber manchmal findet man eine zusammengefaltete Decke oder einen alten Wasserkessel oder eine Mülltonne, die vollgestopft ist mit Brennmaterial, oder ein paar Dosen, säuberlich gestapelt in einer Kapelle, die nicht mehr benutzt wird, und abends kann man innerhalb der Friedhofsmauern oft ein halbes Dutzend kleine Feuer brennen sehen, an verschiedenen Stellen. Das behauptete jedenfalls Jean-Loup.
»Du schläfst hier, stimmt’s?«, fragte ich.
»Ich schlafe auf meinem Boot«, sagte Roux.
Aber er log – das sah ich sofort. Und ich glaube sowieso nicht, dass er ein Boot hat. Wenn er eines hätte, wäre er jetzt nicht hier, und er hätte auch nicht in der Rue de Clichy gewohnt. Aber Roux redete nicht weiter, er spielte mit Rosette, kitzelte sie und brachte sie zum Lachen, sie machte mit ihrer neuen Flöte kleine Quiiiiek-Laute und lachte auf ihre typisch tonlose Art, den Mund so weit offen wie ein Frosch.
»Und was hast du jetzt vor?«, fragte ich ihn.
»Also, ich muss zum Beispiel an Heiligabend zu einem Fest. Oderhast du das schon vergessen?« Er zog eine Grimasse für Rosette, die sich lachend die Hände vors Gesicht schlug.
Ich glaubte allmählich, dass Roux das alles nicht ernst genug nahm. »Willst du wirklich kommen?«, fragte ich ihn. »Meinst du nicht, dass es gefährlich ist?«
»Ich habe es dir versprochen, stimmt’s?«, sagte er. »Und außerdem habe ich eine Überraschung für dich.«
»Ein Geschenk?«
Er grinste. »Wart’s ab.«
Ich konnte es kaum erwarten, Maman zu erzählen, dass ich Roux gesehen hatte. Aber nach gestern Abend wusste ich, dass ich vorsichtig sein musste. Es gibt Dinge, die ich ihr nicht erzählen kann, weil ich Angst habe, sie wird wütend oder versteht mich nicht.
Bei Zozie ist das ganz anders. Wir reden über alles. In ihrem Zimmer trage ich meine roten Schuhe, und wir sitzen auf ihrem Bett, mit der kuscheligen Decke auf den Knien, und sie erzählt mir Geschichten von Quetzalcoatl und Jesus, von Osiris und Mithras und von Sieben-Papagei – Geschichten, wie Maman sie mir früher erzählt hat. Aber die hat jetzt keine Zeit mehr dafür. Ich glaube, sie denkt, ich bin zu alt für solche Geschichten. Dauernd sagt sie zu mir, ich soll endlich erwachsen werden.
Zozie findet, das Erwachsensein wird überschätzt. Sie will nirgends für immer bleiben. Es gibt so viele Orte auf der Welt, die sie noch sehen möchte. Diesen Wunsch würde sie für niemanden aufgeben.
»Nicht einmal für mich?«, fragte ich sie heute Abend.
Sie lächelte, aber ich fand, sie sah dabei ganz traurig aus. »Nicht einmal für dich, kleine Nanou.«
»Aber du gehst nicht fort«, sagte ich.
Sie zuckte die Achseln. »Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Na ja – zum Beispiel auf deine Mutter.«
»Wie meinst du das?«
Sie seufzte. »Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen«, sagte sie. »Aber deine Mutter und ich – wir hatten ein sehr ernstes Gespräch.Und wir haben beschlossen – das heißt, sie hat beschlossen –, dass es vermutlich an der Zeit ist, dass ich hier ausziehe.«
»Dass du hier ausziehst?«
»Der Wind hat gedreht, Nanou.« Das hätte Maman genauso sagen können, und ich kam mir vor, als wäre ich wieder in Les Laveuses, beim Wind, bei den Wohlwollenden. Aber diesmal erinnerte ich mich nicht. Ich dachte an Ehecatl, den Wechselnden Wind, und ich sah die Dinge so, wie sie wären, wenn Zozie uns verlassen würde: ihr Zimmer leer, Staub auf dem Fußboden, alles wieder normal, nur ein kleines Pralinengeschäft, nichts Besonderes mehr –
»Das geht nicht«, sagte ich empört. »Wir brauchen dich hier.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr habt mich gebraucht. Aber sieh dir doch an, wie sich alles verändert hat – der Laden brummt, ihr habt jede Menge Freunde. Ihr braucht mich nicht mehr. Und was mich betrifft – ich muss weiterziehen. Ich muss den Wind nutzen und dahin gehen, wohin er mich trägt.«
Da kam mir ein ganz furchtbarer Gedanke. »Es ist meinetwegen, stimmt’s?«, sagte ich. »Es ist wegen der Sachen, die wir hier machen. Unser Unterricht und die Wäscheklammerpuppen und alles. Sie hat Angst, dass es wieder einen Unfall gibt, wenn du hierbleibst.«
Zozie zuckte die Achseln. »Ich will dir nichts vormachen. Aber ich hätte nicht geglaubt, dass sie so eifersüchtig sein könnte.«
Eifersüchtig? Maman?
»Ja, klar«, sagte Zozie. »Vergiss nicht: Sie war früher so wie wir. Sie konnte hingehen, wohin sie wollte. Aber jetzt hat sie andere
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