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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Vater ist und Rosette nur meine Halbschwester.
    Heute habe ich an meinem Kostüm gearbeitet. Ich komme alsRotkäppchen, denn dafür brauche ich eigentlich nur einen roten Umhang, mit Kapuze natürlich. Zozie hilft mir dabei, wir haben ein Stück Stoff von der Heilsarmee und Madame Poussins alte Nähmaschine. Der Umhang sieht richtig toll aus für selbstgenäht, und dann habe ich noch meinen Korb mit den roten Bändern. Rosette kommt als Affe, in ihrem braunen Overall, an den wir einen Schwanz genäht haben.
    »Als was kommst du, Zozie?«, frage ich sie zum hundertsten Mal.
    Zozie lächelt. »Wart’s ab – sonst verdirbst du noch die Überraschung.«

2

    M ONTAG , 24 . D EZEMBER
    Heiligabend, 15 Uhr
    Die Ruhe vor dem Sturm. So fühlt es sich an: Rosette ist oben und hält einen Mittagsschlaf. Und der Schnee verleibt sich alles ein, still und gierig. Er ist nicht aufzuhalten, er verschluckt alle Geräusche, erstickt die Gerüche und stiehlt das Licht aus dem Himmel.
    Überall auf der Butte lässt er sich nieder. Und jetzt ist natürlich kein Verkehr, der seinen Vormarsch aufhalten könnte. Die Leute, die vorbeikommen, haben ganz verschneite Mützen und Schals, und die Glocken von St.-Pierre-de-Montmartre klingen gedämpft und weit weg, als wären sie mit einem Bann belegt.
    Ich habe Zozie den ganzen Tag kaum gesehen. Ich bin so mit meinen Festvorbereitungen beschäftigt, dass mir zwischen Küche, Kostümen und Kunden gar keine Zeit bleibt, meine Gegenspielerin zu beobachten. Sie hat sich in ihr Zimmer verkrochen und gibt nichts preis. Ich bin gespannt, wann sie losschlägt.
    Die Stimme meiner Mutter, der Geschichtenerzählerin, sagt: Es geschieht heute Abend beim großen Essen, wie in der Geschichte von der Tochter der Witwe ; aber es nervt mich, dass ich gar keine Vorbereitungen mitbekomme. Nicht einen einzigen Kuchen hat sie bis jetzt gebacken. Könnte es sein, dass ich mich täusche? Blufft Zozie vielleicht nur und zwingt mich, eine Karte zu spielen, von der sie weiß, dass sie meine Position hier schwächen wird? Ist es möglich, dass sie gar nichts tun will, während ich in meiner Ahnungslosigkeit die Aufmerksamkeit der Wohlwollenden auf mich lenke?
    Seit Freitagabend hat es keine sichtbaren Auseinandersetzungen mehr zwischen uns gegeben, doch wenn wir allein sind, mustert sie mich mit spöttischen Blicken und zwinkert mir hämisch zu. Sie gibt sich wie immer gut gelaunt und ist genauso schön wie sonst, genauso dynamisch in ihren extravaganten Schuhen. Mir aber erscheint sie wie eine Parodie ihrer selbst, wenn sie so betont ihren Charme ausspielt und auf arrogante Art das Spektakel genießt, wie eine abgetakelte Nutte, die sich als Nonne verkleidet hat. Ich glaube, diese genüssliche Schadenfreude ärgert mich am allermeisten – ihre Art, sich für eine Loge mit nur einer Zuschauerin aufzuplustern. Für sie steht nichts auf dem Spiel. Ich hingegen spiele um mein Leben.
    Ein letztes Mal lege ich mir die Karten.
    Der Narr .
    Die Liebenden . Der Magus . Die Veränderung.
    Der Erhängte . Der Turm .
    Der Turm fällt zusammen. Polternd lösen sich Steine aus der Spitze, stürzten in die Dunkelheit. Winzige Gestalten purzeln von der Brustwehr und fallen fuchtelnd ins Nichts. Eine trägt ein rotes Kleid, oder ist es ein Umhang, mit einer kleinen Kapuze?
    Die letzte Karte sehe ich mir gar nicht an. Ich habe sie schon viel zu oft gesehen. Meine Mutter, die unverbesserliche Optimistin, hat sie auf ganz verschiedene Arten gedeutet, doch für mich bedeutet diese Karte nur eines.
    Der Tod grinst mir als Holzschnitt entgegen, neidisch, freudlos, mit hohlem Blick, hungrig und unersättlich. Der Tod ist nicht zu besänftigen. Der Tod ist das, was wir den Göttern schulden, die Schuld, die wir bezahlen müssen. Draußen liegt ziemlich viel Schnee, und obwohl es schon dunkel wird, leuchtet der Boden ganz hell, als hätten Straße und Himmel die Plätze getauscht. Es sieht völlig anders aus als die hübsche Bilderbuchszenerie des Adventshauses, aber Anouk ist hin und weg und findet immer wieder neue Gründe, weshalb sie unbedingt hinaus auf die Straße rennen muss. Gerade ist sie wieder draußen, von meinem Fenster aus sehe ich ihre bunte Gestalt vor dem ominösen Weiß. Sie wirkt so winzig: ein kleines Mädchen, das sich im Wald verlaufenhat. Was natürlich völlig absurd ist, denn hier gibt es keine Bäume und erst recht keinen Wald. Das ist ja einer der Gründe, weshalb ich diesen Ort ausgewählt habe. Aber durch den

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