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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Knie.
    »Mutter, bitte, bitte, stirb nicht. Ich weiß, dass du es bist.«
    Da stieß die Herzkönigin einen schrillen Wutschrei aus, weil sie begriff, dass ihr selbst jetzt, im Augenblick des höchsten Triumphs, das Herz des Kindes immer noch nicht gehörte. Und in ihrem tödlichen Zorn kreischte sie so laut, dass ihr der Kopf explodierte, wieein Luftballon auf dem Rummelplatz, und so wurde aus der Königin der Herzen die Königin des Nichts.
    Und wie endet die Geschichte?
    Tja, das hing von der Laune meiner Mutter ab. In einer Version überlebte die Mutter, und Mutter und Tochter wohnten bis ans Ende ihrer Tage in ihrer Hütte im Wald. An dunkleren Tagen starb die Mutter, und das Mädchen blieb mit ihrem Schmerz allein zurück. Und es gab noch eine dritte Variante, in der die Hexe im letzten Moment ahnte, dass der Mutter das Herz brechen würde. Also mimte sie selbst einen Zusammenbruch, wodurch sie das Kind dazu brachte, ihr ewige Liebe zu geloben. Und die wahre Mutter stand stumm daneben, ausgestochen und machtlos, während die Hexe zu essen begann.
    Diese Geschichte habe ich Anouk nie erzählt. Sie hat mir als Kind große Angst eingejagt und quält mich bis heute. In Geschichten finden wir die Wahrheit, und obwohl außer in Märchen nie jemand an gebrochenem Herzen stirbt, ist die Herzkönigin doch sehr real, auch wenn sie nicht immer unter diesem Namen auftritt.
    Aber wir beide haben ihr schon früher ins Gesicht gesehen, Anouk und ich. Sie ist der Wind, der am Jahresende weht. Sie ist das Geräusch einer Hand, die klatscht. Sie ist der Knoten in der Brust deiner Mutter. Sie ist der abwesende Blick in den Augen deiner Tochter. Sie ist der Schrei der Katze. Sie sitzt im Beichtstuhl. Sie versteckt sich in der schwarzen Piñata . Vor allem aber ist sie der Tod, die gierige alte Mictecacihuatl selbst, Santa Muerte , die Verschlingerin der Herzen, die Grausamste der Wohlwollenden.
    Und nun ist es wieder an der Zeit, ihr entgegenzutreten. Ich muss für das Leben kämpfen, das wir uns geschaffen habe. Aber dafür muss ich Vianne Rocher sein – wenn ich sie wiederfinde. Die Vianne Rocher, die beim Grand Festival du Chocolat den Schwarzen Mann besiegt hat. Die Vianne Rocher, die allen Leuten sagen kann, welche Pralinen sie am liebsten essen. Die süße Träume verkauft, kleine Verlockungen und Belohnungen, Flitterkram, Tricks, Genuss und Gaumenfreuden und Magie für den Alltag.
    Hoffentlich finde ich sie rechtzeitig wieder.

8

    S AMSTAG , 22 . D EZEMBER
    In der Nacht muss es geschneit haben. Nur eine dünne Schicht, die sich ziemlich schnell in grauen Matsch verwandelt hat, aber es ist immerhin ein Anfang. Bald kommt noch mehr. Man sieht es an den Wolken, sie hängen schwer und dunkel über der Butte, so tief, dass sie praktisch die Kirchtürme berühren. Wolken sehen nur so aus, als wären sie leichter als Luft, aber eigentlich wiegt die Flüssigkeit in einer dieser Wolken Millionen von Tonnen, sagt Jean-Loup. Das ist ein ganzes Parkhaus da oben, voll mit Autos, und die warten nur darauf, heute oder morgen in kleinen Schneeflocken auf die Erde herunterzusegeln.
    Die Butte ist jetzt wahnsinnig weihnachtlich. Auf der Terrasse des Chez Eugène sitzt ein fetter Weihnachtsmann, trinkt Café crème und jagt den kleinen Kindern Angst ein. Die Maler sind auch unterwegs, und direkt vor der Kirche spielt eine kleine Gruppe von Studenten Choräle und Weihnachtslieder. Ich hatte mich für heute Morgen mit Jean-Loup verabredet, und Rosette wollte (schon wieder) die Krippe sehen, also nahm ich sie mit, während Maman arbeitete und Zozie verschiedene Besorgungen machte.
    Sie redeten beide nicht darüber, was gestern Abend passiert ist, aber sie sahen ganz okay aus. Deshalb vermute ich, dass Zozie alles geklärt hat. Maman trug ihr rotes Kleid, in dem sie sich immer so wohlfühlt, und sie redete über Rezepte, und alles klang fröhlich und richtig.
    Jean-Loup wartete schon auf der Place du Tertre, als ich mit Rosette kam. Es war schon fast elf – mit ihr dauert alles so lange,Anorak, Stiefel, Mütze und Handschuhe … Jean-Loup hatte seine Kamera dabei, die große mit dem Spezialobjektiv, und er machte Fotos von den Leuten, die vorbeiliefen, von ausländischen Touristen, von den staunenden Kindern vor der Krippe, von dem dicken Weihnachtsmann, der eine Zigarre rauchte –
    »Oh, hallo! Sie sind es!« Das war Jean-Louis mit seinem Skizzenblock, der mal wieder eine junge Touristin für ein Porträt gewinnen wollte. Er wählt die

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