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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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wirklich – Zozie war doch nie Lehrerin, oder? Wollte Jean-Loup etwa andeuten, dass sie ein Geist sein könnte?
    Aber er war sich natürlich auch nicht sicher. »Man liest immer wieder solche Sachen«, sagte er und steckte den Artikel sorgfältig zurück in den Umschlag. »Ich glaube, solche Leute nennt man Walk-ins , das ist eine Art Seelentransfer oder so.«
    »Meinetwegen.«
    »Du kannst dich ruhig lustig machen, aber irgendwas stimmt nicht. Ich spüre es auch, wenn Zozie da ist. Heute Abend bringe ich wieder meine Kamera mit. Ich möchte ein paar Nahaufnahmen machen – vielleicht beweisen die ja etwas.«
    »Du und deine Geister!« So langsam ärgerte ich mich richtig. Er ist zwar ein Jahr älter als ich – aber was bildet er sich eigentlich ein? Wenn er nur die Hälfte von dem wüsste, was ich inzwischen weiß – von Ehecatl und Vier-Jaguar oder dem Hurakan –, bekäme er sofort einen Anfall. Und wenn er von Pantoufle wüsste oder dass ich und Rosette den Wind der Veränderung angerufen haben oder wenn er erfahren würde, was in Les Laveuses passiert ist, dann würde er endgültig durchdrehen.
    Und deshalb tat ich etwas, was ich vielleicht nicht hätte tun sollen. Aber ich hatte keine Lust, mich mit ihm zu streiten, und mir war klar, dass wir uns in die Haare kriegen würden, wenn erweiterredete. Also machte ich ganz heimlich mit den Fingern das Affen-Symbol, das Zeichen des Schwindlers. Und dann schnippte ich es zu ihm, wie einen kleinen Kieselstein, von hinter meinem Rücken.
    Jean-Loup runzelte verdutzt die Stirn und fasste sich an den Kopf.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich hatte plötzlich so ein leeres Gefühl. Wovon haben wir gerade geredet?«
    Ich habe Jean-Loup wirklich sehr gern. Ich würde niemals wollen, dass ihm etwas zustößt. Aber er gehört zu den normalen Menschen , wie Zozie sagen würde, und nicht zu den Menschen wie wir . Normale Menschen halten sich an Regeln. Menschen wie wir stellen stattdessen neue auf. Es gibt so vieles, was ich Jean-Loup nicht sagen kann, weil er es nicht verstehen würde. Zozie kann ich alles sagen. Sie kennt mich besser als alle anderen.
    Sobald Jean-Loup sich verabschiedet hatte, verbrannte ich den Artikel und die Fotos in dem Kamin in meinem Zimmer – er hatte nämlich vergessen, sie mitzunehmen. Ich schaute zu, wie die Ascheflocken sich weiß färbten und sich wie Schnee auf dem Rost niederließen.
    Jetzt geht es mir besser. Was nicht heißen soll, dass ich Zozie misstraue, aber bei dem Gesicht mit dem verzerrten Mund und den giftigen kleinen Augen bekam ich ein komisches Gefühl. Habe ich es schon einmal gesehen? Könnte das sein? Im Laden oder auf der Straße oder vielleicht im Bus? Und dann dieser Name – Françoise Lavery. Kenne ich ihn? Es ist ein ganz normaler Name, das stimmt. Aber warum denke ich dabei an – eine Maus?

4

    M ONTAG , 24 . D EZEMBER
    Heiligabend, 17 Uhr 20
    Also, ich habe diesen Jungen ja noch nie gemocht. Ein nützliches Werkzeug, um sie vom Einfluss ihrer Mutter wegzulocken und empfänglicher für mich zu machen. Mehr war er nicht. Aber jetzt hat er eine Grenze überschritten – er wagt es, mich zu unterminieren –, und deshalb muss er gehen, fürchte ich.
    Ich habe es in seinen Farben gesehen, als er aus dem Laden ging. Er war oben bei Anouk gewesen – sie haben Musik gehört oder Spiele gespielt, oder was auch immer die beiden zurzeit so treiben –, und er grüßte mich höflich, als er seinen Anorak von der Garderobe hinter der Tür nahm.
    Manche Leute sind leichter zu lesen als andere. Und Jean-Loup ist zwar sehr klug, aber er ist trotzdem erst zwölf. Sein Lächeln war ein bisschen zu freundlich, etwas, was ich in meiner Zeit als Lehrerin mehr als einmal beobachtet habe. Es ist das Lächeln eines Jungen, der zu viel weiß und denkt, er kommt damit durch. Und was war in dem Ordner, den er gerade zu Anouk hochgebracht hat?
    Waren es etwa – Fotos?
    »Kommst du zu unserem Fest heute Abend?«
    Er nickte. »Klar. Der Laden sieht toll aus.«
    Stimmt. Vianne hat wirklich gewirbelt heute. Von der Decke hängen ganze Büschel mit Silbersternen, und Zweige mit Kerzen warten darauf, angezündet zu werden. Es gibt keinen großen Esstisch, also hat sie die kleinen Tische zusammengeschoben und mit den üblichen drei Tischtüchern bedeckt: ein grünes, ein weißes, ein rotes. Ein Kranz aus Stechpalmen hängt an der Tür. Zedernholzund frisch geschnittene Tannenzweige erfüllen die Luft mit einem

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