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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Schnee verändert sich alles, und die Magie setzt sich wieder durch. Die Winterwölfe schleichen durch die Gassen und Straßen der Butte de Montmartre .

3

    M ONTAG , 24 . D EZEMBER
    Heiligabend, 16 Uhr 30
    Jean-Loup ist heute Nachmittag vorbeigekommen. Er hatte mich morgens angerufen, um zu sagen, dass er mir ein paar Fotos zeigen will, die er neulich gemacht hat. Er entwickelt sie selbst, muss man wissen – jedenfalls die Schwarzweißaufnahmen –, und zu Hause hat er Hunderte von Fotos, alle beschriftet und in Ordner sortiert. Er klang irgendwie aufgeregt und atemlos, als hätte er eine Überraschung für mich, die nicht warten kann.
    Ich dachte, er hätte es endlich geschafft, auf dem Friedhof die Geisterlichter zu fotografieren, von denen er immer redet.
    Aber er brachte keine Friedhofsbilder mit, auch keine Aufnahmen von der Butte , von der Krippe und der Weihnachtsbeleuchtung und dem Zigarre kauenden Weihnachtsmann. Nein, es waren lauter Bilder von Zozie – die Schnappschüsse, die er in der Chocolaterie mit der Digitalkamera gemacht hat, und außerdem noch ein paar neuere Aufnahmen in Schwarzweiß. Auf einigen steht sie hier vor dem Laden, auf anderen sieht man sie in einer Menschenmenge, wie sie über den Platz zur Seilbahn eilt oder vor der Bäckerei in der Rue des Trois Frères Schlange steht.
    »Was soll das?«, sagte ich. »Du weißt doch, sie will nicht –«
    »Schau sie dir mal genau an, Annie«, sagte er.
    Ich wollte sie mir aber nicht anschauen. Jean-Loup und ich haben uns nur ein einziges Mal gestritten, und das war wegen seiner blöden Bilder. Ich wollte nicht, dass das noch mal passiert. Aber warum hatte er die ganzen Fotos überhaupt gemacht? Irgendeinen Grund musste er ja gehabt haben –
    »Bitte«, sagte Jean-Loup. »Sieh sie dir an, und wenn dir nichts an ihnen auffällt, dann werfe ich sie sofort weg, das verspreche ich dir.«
    Mir war gar nicht wohl, als ich die Bilder durchging. Der Gedanke, dass Jean-Loup Zozie nachspioniert hatte – wie ein Stalker –, war ja schon schlimm genug, aber die Fotos hatten etwas, was das unangenehme Gefühl noch verstärkte.
    Klar, man konnte Zozie erkennen. Das waren eindeutig ihre ausgeflippten Stiefel mit den dicken Plateausohlen, ihr Rock mit den Glöckchen am Saum. Ihre Haare sahen auch so aus wie immer. Und natürlich ihr Schmuck und die Basttasche, die sie zum Einkaufen nimmt.
    Aber ihr Gesicht –
    »Du musst beim Abziehen irgendwas falschgemacht haben«, sagte ich und schob ihm die Bilder wieder hin.
    »Hab ich nicht – großes Ehrenwort, Annie. Und alle anderen Fotos auf dem Film waren völlig in Ordnung. Es hat etwas mit ihr zu tun. Sie macht das, irgendwie. Anders kann ich es mir nicht erklären.«
    Ich wusste ja selbst nicht, was der Grund sein könnte. Manche Leute sehen auf Fotos immer toll aus. Solche Leute bezeichnet man als fotogen. Aber fotogen war Zozie offensichtlich nicht. Andere kommen einigermaßen gut rüber, aber selbst das konnte man bei Zozie nicht behaupten. Die Bilder waren alle miteinander richtig scheußlich. Ihr Mund war eklig verzerrt, ihre Augen waren winzig und hatten einen ganz merkwürdigen Ausdruck, und um ihren Kopf herum war ein Fleck, eine Art Schatten, so wie ein Heiligenschein, nur eben anders –
    »Sie ist nicht besonders fotogen. Na und? Nicht alle Leute können fotogen sein.«
    »Da ist noch was«, sagte Jean-Loup. »Hier, schau dir das mal an.« Und er holte einen zusammengefalteten Artikel aus der Tasche, den er aus einer der Pariser Tageszeitungen ausgeschnitten hatte. Neben dem Text war das unscharfe Gesicht einer Frau abgebildet. Sie hieß Françoise Lavery, stand da. Aber das Bild war ganz ähnlichwie die Fotos von Zozie: winzig kleine Augen und verkniffener Mund. Und sogar der komische Schatten war da.
    »Und was soll das beweisen?«, fragte ich. Das Bild war stark vergrößert, so dass es ganz grobkörnig war, wie die meisten Zeitungsfotos. Man konnte nicht mal schätzen, wie alt die Frau war. Braver Pagenschnitt mit langem Pony. Kleine Brille. Total anders als Zozie! Bis auf den komischen Mund und die Augen und den Fleck.
    Ich zuckte die Achseln. »Das kann doch irgendjemand sein.«
    »Nein – das ist sie«, sagte Jean-Loup. »Ich weiß, es ist unmöglich, aber trotzdem – sie muss es sein.«
    Völlig absurd, dachte ich. Und der Artikel selbst war auch ganz verrückt: Die Frau hatte als Lehrerin in Paris gearbeitet, und letztes Jahr war sie irgendwann verschwunden. Also

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