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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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kein Herz, kein Eigenleben, außer dem, das wir ihr verleihen. Und wenn wir das weggegeben haben …
    Roux hob Rosette hoch, die sich gar nicht wehrte, wie sonst bei fremden Leuten – nein, sie gab einen stummen Freudengluckser von sich und machte mit beiden Händen ein Zeichen.
    »Was sagt sie?«
    »Sie sagt, du siehst aus wie ein Affe«, übersetzte ich lachend. »Bei Rosette ist das ein Kompliment.«
    Er grinste belustigt und legte den Arm um mich. Und einen Moment lang standen wir drei eng umschlungen da, Rosette umklammerte seinen Hals.
    Und auf einmal wird alles still, das Windspiel klingelt, und die Tür wird weit aufgerissen, und ich sehe wieder eine Gestalt mit Kapuze im Türrahmen stehen, aber größer und massiger und mir so vertraut, dass ich trotz des falschen Bartes gar nicht erst die Zigarre in seiner Hand zu sehen brauche, um zu wissen, wer es ist.
    Alle sind wie erstarrt, als Thierry eintritt, mit schweren, schlurfenden Schritten, die für ein gewisses Quantum an Alkohol sprechen.
    Er fixiert Roux mit grimmiger Miene und ruft: »Wer ist sie?«
    »Sie?«, fragt Roux zurück.
    Mit drei großen Schritten durchquert Thierry den Raum, wirft unterwegs fast den Weihnachtsbaum um und verstreut die Geschenke auf dem Fußboden. Dann baut er sich vor Roux auf, streckt sein Gesicht mit dem weißen Bart vor und sagt:
    »Sie wissen ganz genau, wen ich meine! Ihre Komplizin! Die Frau, die Ihnen geholfen hat, meinen Scheck einzulösen. Die Bank hat sie mit der Überwachungskamera gefilmt – und so wie’s aussieht, hat sie dieses Jahr schon mehr als einen Trottel um sein Geld gebracht.«
    »Ich habe keine Komplizin«, sagt Roux. »Und Ihren Scheck habe ich gar nicht –«
    Und nun sehe ich etwas in seinem Mienenspiel, ich sehe, dass ihm etwas dämmert, aber es ist zu spät.
    Thierry packt ihn am Arm. Die beiden stehen dicht voreinander, wie ein verzerrtes Spiegelbild, Thierry mit wildem Blick, Roux extrem blass –
    »Die Polizei weiß über die Frau Bescheid«, fährt Thierry fort. »Aber sie waren ihr noch nie so dicht auf der Spur. Sie ändert ständig ihren Namen. Und sie arbeitet allein. Aber diesmal hat sie einen Fehler gemacht. Sie hat sich mit Ihnen zusammengetan, und Sie sind ein jämmerlicher Versager. Also, wer ist sie?« Inzwischen brüllt er richtig, und sein Gesicht ist mindestens so rot wie das des Weihnachtsmanns. Mit seinen besoffenen Augen glotzt er Roux an. »Wer zum Teufel ist Vianne Rocher?«

10

    M ONTAG , 24 . D EZEMBER
    Heiligabend, 22 Uhr 55
    Also, das ist die Eine-Million-Euro-Frage, oder?
    Thierry ist betrunken, das sehe ich gleich. Er stinkt nach Bier und nach Zigarrenqualm. Der Gestank hängt in seinem Weihnachtsmannkostüm und in dem absurd festlichen Wattebart. Seine Farben sind düster und bedrohlich, aber ich merke, dass er in schlechter Form ist.
    Ihm gegenüber steht Vianne, weiß wie eine Eisstatue, ihr Mund ist halb offen, ihre Augen blitzen. Sie schüttelt hilflos den Kopf. Sie weiß, dass Roux sie nicht ausliefern wird, und Anouk bringt kein Wort über die Lippen, sie ist doppelt verwirrt, einerseits wegen der rührenden kleinen Familienszene, die sie hinter der Küchentür beobachtet hat, und andererseits wegen dieses hässlichen Überfalls, nachdem endlich alles so perfekt schien –
    »Vianne Rocher?«, wiederholt Yanne mit neutraler Stimme.
    »Ganz genau«, sagt Thierry. »Außerdem heißt sie noch Françoise Lavery, Mercedes Demoines, Emma Windsor, um nur ein paar Namen zu nennen –«
    Ich sehe, wie Anouk, die hinter Vianne steht, zusammenzuckt. Einer dieser Namen kommt ihr offensichtlich bekannt vor. Ist das wichtig? Ich glaube nicht. Im Gegenteil – ich denke, ich habe das Spiel gewonnen.
    Thierry richtet nun seine Glotzaugen misstrauisch auf Yanne. »Er sagt doch immer Vianne zu dir.« Natürlich meint er Roux.
    Wortlos schüttelt sie den Kopf.
    »Willst du etwa behaupten, du hast den Namen noch nie gehört?«
    Wieder schüttelt sie den Kopf, und ach!  – dieser Blick, als sie merkt, dass sie in der Falle sitzt! Endlich begreift sie, wie zielstrebig sie genau an diesen Punkt geführt wurde – und dass ihr nur noch eine Hoffnung bleibt. Aber damit diese Hoffnung sich erfüllt, müsste sie sich selbst ein drittes Mal verleugnen –
    Hinter ihnen steht Madame vom Hotel. Niemand beachtet sie. Während der Mahlzeit war sie still, hat höchstens mit Anouk ein paar Worte gewechselt. Aber jetzt starrt sie Thierry mit unverhohlenem Entsetzen an. Ich habe Madame

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