Himmlische Wunder
einem Haus ganz in der Nähe des Boulevard de Clichy, zu Fuß zehn Minuten von der Place des Faux-Monnayeurs entfernt. Zwei Zimmer, jedes so groß wie eine Briefmarke, oben im vierten Stock, enges Treppenhaus, aber sehr billig, also meiner momentanen Situation entsprechend, und diskret genug, um meine Anonymität zu schützen. Von hier habe ich die Straßen im Blick, ich kann mein Kommen und Gehen planen und Teil der Szenerie werden.
Es ist nicht die Butte , denn die übersteigt meine Möglichkeiten. Und es ist ein ziemlicher Abstieg nach Françoise’ hübscher kleinen Wohnung im 11 . Bezirk. Aber Zozie de l’Alba gehört nicht dazu, und es passt zu ihr, unter ihrem Niveau zu wohnen. Hier leben ganz unterschiedliche Menschen, Studenten, Ladenbesitzer, Immigranten, Masseurinnen mit und ohne Lizenz. Es gibt allein in diesem kleinen Viertel ein halbes Dutzend Kirchen (Wollust und Religion, die siamesischen Zwillinge), in den Straßen liegen mehr Abfälle herum als Blätter, es riecht immer nach Gully und nach Hundedreck. Auf dieser Seite der Butte sind die hübschen kleinen Cafés längst billigen Supermärkten und Schnapsläden gewichen, vor denen sich abends die Obdachlosen versammeln und Rotweinaus Plastikflaschen trinken, bevor sie sich vor den vergitterten Eingängen zur Ruhe legen.
Wahrscheinlich wird es mir bald langweilig hier, aber ich brauche eine Wohnung, in der ich mich unauffällig bewegen kann, bis sich die Aufregung wegen Madame Beauchamp – und wegen Françoise Lavery – wieder gelegt hat. Außerdem kann es nie schaden, wenn man ein bisschen vorsichtig ist. Wie meine Mutter immer sagte: Man muss sich Zeit nehmen, um die Kirschen zu pflücken.
3
D ONNERSTAG , 8 . N OVEMBER
Während ich darauf warte, dass die Kirschen reifen, sammle ich Informationen über die Einwohner der Place des Faux-Monnayeurs. Madame Pinot, dieses kleine Sumpfhuhn, führt einen Zeitungsladen mit Souvenirs und anderem Krimskrams und ist ein Plappermaul. Sie hat mich mit dem Viertel vertraut gemacht.
Durch sie weiß ich, dass Laurent Pinson gern in Single-Bars geht, dass der dicke junge Mann vom italienischen Restaurant über hundertfünfzig Kilo wiegt, aber trotzdem mindestens zwei Mal in der Woche in die Chocolaterie geht und dass die Frau mit dem Hund, die jeden Donnerstag um zehn Uhr vorbeikommt, Madame Luzeron ist, deren Mann letztes Jahr einen Schlaganfall hatte und deren Sohn mit dreizehn gestorben ist. Jeden Donnerstag geht sie auf den Friedhof, sagt Madame Pinot, den albernen kleinen Hund im Schlepptau. Woche für Woche. Die arme Frau.
»Was ist mit der Chocolaterie ?«, fragte ich sie und nahm mir aus dem kleinen Zeitschriftenregal eine Paris-Match (ich hasse Paris-Match ). Über und unter den Zeitschriften steht das bunte religiöse Zeug, Madonnen aus Gips, billige Keramikfiguren, Schneekugeln mit Sacré Cœur, Medaillons, Kruzifixe, Rosenkränze, Weihrauch für alle Gelegenheiten. Ich würde mal vermuten, dass Madame eher prüde ist. Sie hat auf den Titel meiner Zeitschrift geschaut (auf der Prinzessin Stephanie von Monaco zu sehen war, wie sie sich im Bikini irgendwo am Strand räkelt) und eine Grimasse gezogen, so dass sie aussah wie das Hinterteil eines Truthahns.
»Da gibt’s nicht viel zu sagen«, antwortete sie. »Der Ehemann istirgendwo im Süden gestorben. Aber sie ist insgesamt auf die Füße gefallen.« Das geschäftige Plappermaul spitzte wieder die Lippen. »Ich vermute, über kurz oder lang wird’s da eine Hochzeit geben.«
»Tatsächlich?«
Sie nickte. »Thierry Le Tresset. Ihm gehört das Haus. Er hat den Laden sehr günstig an Madame Poussin vermietet, weil sie irgendwie eine Freundin der Familie war. Durch sie hat er Madame Charbonneau kennengelernt. Und wenn ich je einen Mann gesehen habe, der bis über beide Ohren –« Sie tippte die Zeitschrift in die Kasse. »Trotzdem, ich frage mich, ob ihm klar ist, worauf er sich da einlässt. Sie ist mindestens zwanzig Jahre jünger als er – und er ist immer auf Geschäftsreisen. Außerdem hat sie zwei Kinder, von denen eins irgendwie anders ist –«
»Anders?«, wiederholte ich.
»Ach, haben Sie das noch gar nicht gehört? Das arme Ding. So was ist für jeden Menschen eine schwere Last – und das wäre ja schon schlimm genug –«, sagte sie, »aber – na ja, mir soll doch keiner erzählen, dass der Laden Profit abwirft, bei den hohen laufenden Kosten, und dann die Heizung und die Miete –«
Ich ließ sie noch eine Weile reden.
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