Himmlische Wunder
wenn man sie nur im Vorübergehen sieht, aber ihr Verhalten folgt vorhersagbaren Regeln. Sie hat keine Farben – oder wenn sie welche hat, dann hat sie gelernt, diese sehr gut hinter einer Mauer der Belanglosigkeit zu verbergen.
Die Kinder hingegen sind hell illuminiert. In der Regel haben Kinder sowieso kräftigere Farben als Erwachsene, aber Annie fällt trotzdem auf, und ihre Farbschleppe aus strahlendem Schmetterlingsblau flattert trotzig vor dem Blau des Himmels.
Aber da ist noch etwas, glaube ich – eine Art Schatten, der ihr folgt. Ich habe ihn gesehen, als sie mit Rosette vor der Chocolaterie spielte. Annie mit dieser byzantinischen Haarwolke, die in der Nachmittagssonne golden glühte, während sie ihre kleine Schwester an der Hand hielt, die in ihren primelgelben Gummistiefeln über das Kopfsteinpflaster hüpfte und stampfte.
Irgendein Schatten. Ein Hund, eine Katze?
Gut – ich werde es herausfinden. Das weiß ich. Lass mir Zeit, Nanou. Lass mir nur ein klein bisschen Zeit.
4
D ONNERSTAG , 8 . N OVEMBER
Thierry ist heute aus London zurückgekommen, mit einem Armvoll Geschenke für Anouk und Rosette und mit einem Dutzend gelber Rosen für mich.
Es war Viertel nach zwölf, und in zehn Minuten wollte ich die Chocolaterie über Mittag schließen. Ich war gerade dabei, für eine Kundin eine Schachtel mit Makrönchen als Geschenk zu verpacken, und freute mich auf eine ruhige Stunde mit den Kindern (Donnerstag ist Anouks freier Nachmittag). Ich schlang ein pinkfarbenes Band um die Schachtel – eine Bewegung, die ich schon tausendmal ausgeführt hatte –, band eine Schleife und zog dann das Band an der Klinge der Schere entlang, damit es sich ringelt.
»Yanne!«
Die Schere rutschte mir weg, aus dem Kringel wurde nichts. »Thierry! Du kommst einen Tag früher!«
Thierry ist ein großer, kräftiger Mann. In seinem Kaschmirmantel füllte er den gesamten Türrahmen des kleinen Ladens. Ein offenes Gesicht, blaue Augen, dichtes Haar, fast noch ganz braun. Geldhände, die aber auch noch das Arbeiten gewohnt sind, rissige Handflächen und polierte Fingernägel. Der Geruch von Gipsstaub und Leder, von Schweiß und der gelegentlichen dicken Zigarre, die er allerdings immer mit schlechtem Gewissen pafft.
»Ihr habt mir gefehlt«, murmelte er und küsste mich auf die Wange. »Tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig zur Beerdigung hier sein konnte. War es schlimm?«
»Nein. Nur traurig. Niemand ist gekommen.«
»Du bist wunderbar, Yanne. Ich weiß nicht, wie du es machst. Wie läuft das Geschäft?«
»Gut.« In Wirklichkeit lief es gar nicht gut. Die Kundin war erst meine zweite heute; diejenigen, die nur hierher kommen, um zu gucken, nicht mitgezählt. Aber ich war froh, dass sie jetzt bei Thierrys Ankunft da war – eine junge Chinesin in einem gelben Mantel. Die Makrönchen werden ihr zweifellos schmecken, aber mit einer Schachtel Schokoerdbeeren wäre sie wesentlich besser bedient. Aber das geht mich nichts an. Jedenfalls nicht mehr.
»Wo sind die Mädchen?«
»Oben, in ihren Zimmern«, sagte ich. »Wie war’s in London?«
»Toll. Du musst unbedingt mal mitkommen.«
Ich kenne London gut. Meine Mutter und ich haben fast ein Jahr dort gelebt. Ich weiß nicht, warum ich es ihm nicht erzähle oder warum ich ihn in dem Glauben lasse, dass ich in Frankreich geboren wurde und auch hier aufgewachsen bin. Vielleicht ist es meine Sehnsucht nach Normalität, die mich daran hindert. Vielleicht habe ich aber auch Angst, dass er mich, wenn ich meine Mutter erwähne, anders anschaut.
Thierry ist ein anständiger Bürger. Sohn eines Bauarbeiters, der es durch Immobiliengeschäfte zu Geld gebracht hat. Alles Ungewöhnliche, Ungewisse ist ihm fremd. Sein Geschmack ist konventionell. Er mag ein gutes Steak, trinkt Rotwein, liebt Kinder, blöde Wortspiele und alberne Reime, er hat es lieber, wenn Frauen Röcke tragen, er geht zur Messe, der Macht der Gewohnheit folgend, hat keine Vorurteile gegen Ausländer, würde aber lieber nicht ganz so viele hier in der Stadt sehen. Ich habe ihn gern, aber der Gedanke, mich ihm oder überhaupt irgendjemandem anzuvertrauen, ist trotzdem …
Aber ich muss ja nicht. Ich habe noch nie einen Vertrauten gebraucht. Ich habe Anouk. Ich habe Rosette. Wann habe ich sonst jemanden gebraucht?
»Du siehst traurig aus.« Die junge Chinesin war gegangen. »Wie wär’s mit einem Mittagessen?«
Ich lächelte. In Thierrys Welt ist Essen ein Mittel gegen Trauer. Ich hatte keinen
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