Himmlische Wunder
eigentlich, dass Zozie etwas sagen würde – eine Frau, die es fertigbringt, in einem englischen Tea-Shop das Wort Arschtüte zu verwenden, hat bestimmt auch sonst keine Hemmungen, ihre Meinung zu sagen.
Aber sie hielt sich zurück. »Hier sind fünfzig. Stimmt so.« Und sie legte einen Fünf-Euro-Schein auf das Tablett.
Ich konnte genau sehen, dass es nur fünf Euro waren. Aber irgendwie schien die Kellnerin es nicht zu bemerken.
Sie sagte nur: » Merci, bonne journée.« Zozie machte ein Zeichen mit der Hand und steckte ihren Geldbeutel wieder ein, als wäre nichts passiert.
Und dann schaute sie mich an und zwinkerte mir zu.
Eine Sekunde lang war ich mir nicht mehr sicher, ob ich richtig gesehen hatte. Vielleicht war es nur ein ganz normaler Zufall gewesen. Schließlich war das Café sehr voll, die Kellnerin war beschäftigt, und manchmal machen die Leute Fehler.
Aber nach der Sache mit dem Tee –
Zozie lächelte mich an, wie eine Katze, die dich gleich kratzen könnte, auch wenn sie noch schnurrend auf deinem Schoß sitzt.
Tricks, hatte sie gesagt.
Zufälle, dachte ich. Unfälle.
Ich schaute auf die Uhr. »Ich muss los.« Auf einmal wünschte ich mir, ich wäre gar nicht mitgegangen. Ach, und ich hätte sie vor der Chocolaterie nicht ansprechen sollen. Klar, es ist nur ein Spiel – es ist nicht mal real –, und trotzdem kommt es mir so gefährlich vor, als wäre da etwas, das schläft und das man nicht allzu oft anstoßen darf, weil es sonst aufwacht.
Ich schaute auf meine Uhr. »Ich muss los.«
»Annie. Entspann dich. Es ist erst halb fünf.«
»Maman macht sich Sorgen, wenn ich zu spät komme.«
»Fünf Minuten machen doch nichts.«
»Ich muss gehen.«
Ich glaube, irgendwie habe ich erwartet, sie würde mich aufhalten und mich dazu bringen, wieder umzudrehen, wie die Kellnerin. Aber Zozie lächelte nur, und ich kam mir blöd vor, weil ich gleich so in Panik geraten war. Manche Leute sind leicht zu manipulieren. Die Kellnerin gehörte wahrscheinlich in diese Kategorie. Oder sie hatten sich beide geirrt. Oder vielleicht hatte ich mich geirrt.
Aber ich wusste, was ich gesehen hatte. Und sie wusste es auch. Das merkte ich an ihren Farben. Und an der Art, wie sie mich anschaute, mit diesem Lächeln, als hätten wir mehr getan, als nur Kuchen gegessen.
Ich weiß, es ist gefährlich. Aber ich mag sie. Ich mag sie sogar sehr. Ich wollte etwas sagen, um mich ihr verständlich zu machen.
Einer spontanen Eingebung folgend drehte ich mich um und sah, dass sie immer noch lächelte.
»Tschüs, Zozie«, sagte ich. »Heißen Sie wirklich so?«
»Tschüs, Annie«, ahmte sie mich nach. »Heißt du so?«
»Na ja, ich –« Ich war so verdutzt, dass ich es ihr fast erzählt hätte. »Meine richtigen Freunde sagen Nanou zu mir.«
»Und hast du viele Freunde?«, fragte sie mit einem Lächeln.
Ich lachte und hob einen einzigen Finger.
2
D IENSTAG , 6 . N OVEMBER
Was für ein interessantes Kind. In mancher Hinsicht jünger als ihre Altersgenossinnen, aber dann auch wieder sehr viel älter. Es fällt ihr leicht, sich mit Erwachsenen zu unterhalten, aber anderen Kindern gegenüber wirkt sie befangen und ungeschickt, als wollte sie erst herausfinden, wie kompetent sie sind. Mir gegenüber war sie mitteilsam, lustig, unterhaltsam, nachdenklich, eigenwillig, doch sie reagierte mit instinktiver Abwehr, als ich – ganz behutsam – das Thema Andersartigkeit ansprach.
Klar, kein Kind will anders sein als die anderen. Aber bei Annie geht die Zurückhaltung tiefer. Es ist, als würde sie etwas vor der Welt verbergen, eine Eigenschaft, die Risiken birgt, wenn sie entdeckt wird.
Andere Leute merken das vielleicht gar nicht. Aber ich bin nicht wie die anderen, und ich fühle mich zu diesem Mädchen unwiderstehlich hingezogen. Ich frage mich, ob sie weiß, was sie ist, ob sie es versteht – ob sie überhaupt eine Ahnung davon hat, welches Potenzial in ihrem kleinen Trotzkopf schlummert.
Ich habe sie heute wieder gesehen, auf ihrem Heimweg von der Schule. Sie war – na ja, nicht gerade abweisend, aber doch wesentlich weniger zutraulich als gestern. Als hätte sie gemerkt, dass eine gewisse Grenze überschritten wurde. Wie gesagt, ein hochinteressantes Kind. Vor allem, weil sie für mich eine echte Herausforderung darstellt. Ich spüre, dass sie durchaus empfänglich ist für Verführungen, aber sie ist misstrauisch, extrem misstrauisch, und ich muss langsam vorgehen, wenn ich sie nicht vertreiben
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