Himmlische Wunder
Hunger. Aber wenn wir nicht essen gehen, bleibt er den ganzen Nachmittag hier im Laden. Also rief ich Anouk, überredete Rosette mit viel Geschick dazu, sich ihren Mantel anziehen zu lassen, und dann gingen wir rüber zum Le P’tit Pinson , das Thierry wegen seines versifften Charmes und wegen des fettigen Essens gern mag und das ich aus genau denselben Gründen nicht ausstehen kann.
Anouk war irgendwie nervös, und Rosette hätte jetzt eigentlich einen Mittagsschlaf halten müssen, aber Thierry war ganz erfüllt von seiner Londonreise, von den vielen Menschen, den Gebäuden, Theatern, Geschäften. Sein Unternehmen renoviert verschiedene Bürogebäude in der Nähe von King’s Cross, und er arbeitet selbst gern auf der anderen Seite des Kanals, fährt montags mit dem Zug hin und kommt am Wochenende zurück. Seine Exfrau Sarah lebt in London, aber Thierry versichert mir immer wieder, dass es zwischen ihm und Sarah seit Jahren aus ist (als müsste er mich beruhigen).
Ich zweifle nicht daran. Thierry kennt keine Tricks, keine Schwindeleien. Am liebsten isst er einfache Milchschokolade, die man in jedem Supermarkt kaufen kann. Dreißig Prozent Kakaomasse, bei allem, was ein bisschen stärker ist, streckt er die Zunge raus wie ein kleiner Junge. Aber ich liebe seine Begeisterungsfähigkeit. Und ich beneide ihn um seine Schlichtheit und seinen Mangel an Berechnung. Vielleicht ist mein Neid größer als meine Liebe, aber ist das wichtig?
Wir haben ihn letztes Jahr kennengelernt, als das Dach kaputt war. Die meisten Vermieter hätten einen Handwerker geschickt, aber Thierry kannte Madame Poussin schon seit Jahren (sie war eine alte Freundin seiner Mutter), und er reparierte das Dach selbst, blieb noch auf eine Tasse Schokolade da und spielte mit Rosette.
Unsere Freundschaft dauert also schon zwölf Monate, und wir sind wie ein altes Paar, mit unseren Lieblingskneipen und unseren eingespielten Gewohnheiten. Allerdings hat Thierry bis jetzt noch keine Nacht mit mir verbracht. Er glaubt, ich bin verwitwet, und will mir rührenderweise »Zeit lassen«. Aber was er sich wünscht, ist klar, wenn auch noch nicht offiziell ausgesprochen – und wäre es denn wirklich so schlimm?
Er hat das Thema nur einmal kurz gestreift: eine Anspielung auf seine große Wohnung in der Rue de la Croix, in die wir schon oft eingeladen waren und die, wie er sich ausdrückt, dringend »eine weibliche Hand« bräuchte.
Eine weibliche Hand. Was für eine altmodische Redensart. Thierry ist überhaupt ein altmodischer Typ. Trotz seiner Liebe zur Elektronik, trotz Handy und Dolby-Surround-Stereoanlage, bleibt er seinen alten Idealen treu, seiner Sehnsucht nach einer Zeit, als alles einfacher war.
Einfach. Das ist es. Ein Leben mit Thierry wäre einfach. Es wäre immer Geld da für die notwendigen Anschaffungen. Die Miete für die Chocolaterie wäre bezahlt. Anouk und Rosette wären versorgt. Und genügt es denn nicht, dass er die Kinder und mich liebt?
Genügt das, Vianne? Das ist die Stimme meiner Mutter, die neuerdings ganz ähnlich klingt wie Roux. Ich erinnere mich an eine Zeit, da hast du dir mehr gewünscht .
So wie du, Mutter ?, entgegne ich stumm. Du hast dein Kind von einer Stadt in die andere geschleppt, ständig auf der Flucht. Du hast unter Mühen immer nur von der Hand in den Mund gelebt, du hast gestohlen, gelogen, gezaubert, sechs Wochen, drei Wochen, vier Tage an einem Ort, und dann weiter. Kein Zuhause, keine Schule, nur Träume und Karten, die gelegt wurden, umunsere Reisen auszutüfteln, in geerbten Kleidern mit herausgelassenen Säumen, wie Schneider, die zu beschäftigt sind, um die eigene Kleidung zu flicken.
Wenigstens haben wir gewusst, wer wir sind, Vianne .
Das ist eine ziemlich billige Antwort. Genauso, wie ich es von ihr erwartet hätte. Außerdem weiß ich, wer ich bin. Oder?
Wir bestellten Nudeln für Rosette und für uns das Tagesgericht. Das Café war ziemlich leer, sogar für einen Wochentag, aber die Luft war stickig vom Bier und von den Gitanes. Laurent Pinson ist selbst sein bester Kunde. Energisches Kinn, unrasiert und stets schlecht gelaunt. Seine Gäste betrachtet er als Eindringlinge, die ihm seine Freizeit stehlen, und er macht keinen Hehl daraus, dass er sie alle verachtet, bis auf die paar Stammgäste, die auch seine Freunde sind.
Er toleriert Thierry, der entsprechend den lauten Pariser spielt und schon beim Eintreten ruft: Hé, Laurent, ça va, mon pote!, und einen dicken Geldschein auf den Tisch
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