Himmlische Wunder
will.
Also unterhielten wir uns nur eine Weile – ich erwähnte diesmal ihre Andersartigkeit nicht, auch nicht den Ort, den sie Lansquenet nennt, oder den Pralinenladen –, und dann gingen wir wieder auseinander, aber ich sagte ihr vorher noch, wo ich wohne und wo ich jetzt arbeite.
Wo ich arbeite? Na ja, jeder braucht einen Job. Für mich ist die Arbeit ein guter Vorwand, um ein bisschen zu spielen: Ich kann unter Leute gehen, sie beobachten und ihre kleinen Geheimnisse erfahren. Geld brauche ich natürlich nicht, deshalb kann ich es mir leisten, den erstbesten Job anzunehmen. Einen Job, wie ihn jede junge Frau in einem Stadtteil wie Montmartre ohne Schwierigkeiten findet.
Nein, nicht das. Kellnerin natürlich.
Es ist schon sehr, sehr lange her, dass ich das letzte Mal in einem Café gearbeitet habe. Zurzeit habe ich es eigentlich nicht nötig – man wird miserabel bezahlt, und die Arbeitszeiten sind noch miserabler –, aber ich finde, Kellnern passt zu Zozie de l’Alba. Und außerdem habe ich so die Chance, genau zu studieren, was sich im Viertel abspielt.
Das Le P’tit Pinson , in einer Ecke der Rue des Faux-Monnayeurs, ist ein Café alten Stils, das aus der etwas schmuddeligeren, anrüchigeren Zeit des Montmartre stammt, dunkel und verraucht – überall sind Spuren von Fett und Nikotin. Der Besitzer heißt Laurent Pinson, ein fünfundsechzigjähriger Pariser, der einen aggressiven Schnurrbart trägt und seine Körperpflege vernachlässigt. Genau wie Laurent ist auch das Café eigentlich nur für die ältere Generation attraktiv, die zu schätzen weiß, dass die Preise moderat sind und dass es immer ein Tagesgericht gibt – und für etwas verrückte Menschen wie mich, die sich über die spektakuläre Unhöflichkeit des Besitzers und über die extremen politischen Ansichten der älteren Gäste amüsieren.
Die Touristen bevorzugen die Place du Tertre, mit dem Kopfsteinpflaster, den hübschen kleinen Cafés und den Tischchen mit Stoffdecken. Oder die Jugendstil - Pâtisserie in der unteren Butte ,mit ihrer köstlichen Auswahl an Törtchen und Konfekt. Oder den englischen Tea-Shop in der Rue Ramey. Aber die Touristen sind mir egal. Ich interessiere mich für die Chocolaterie auf der anderen Seite des Platzes, die ich von hier aus gut im Blick habe. Ich kriege mit, wer kommt und geht, ich kann die Kunden zählen, die Lieferungen überwachen und mir generell einen Eindruck vom Alltagsrhythmus verschaffen.
Die Briefe, die ich am ersten Tag gestohlen habe, waren in praktischer Hinsicht nicht besonders aufschlussreich. Eine Quittung vom 20 . Oktober, auf der Barzahlung stand, von einem Konditoreilieferanten namens Sogar Fils . Aber wer bezahlt heute noch bar? So eine unpraktische Zahlweise – hat diese Frau denn kein Konto? Das heißt, diesem Brief konnte ich nichts entnehmen.
Im zweiten Umschlag befand sich eine Beileidskarte wegen Madame Poussin, unterschrieben mit Gruß und Kuss, Thierry . Abgestempelt in London. Und noch lässig hinzugefügt: Bis bald, und mach dir bitte keine Sorgen .
Abheften für später.
Drittens eine verblasste Postkarte von der Rhône, die noch weniger aussagte:
Es geht nach Norden. Ich komme vorbei, wenn’s klappt .
Gezeichnet mit R. Nur an Y und A adressiert, aber die Schrift war ziemlich schlampig, und das Y sah eher aus wie ein V.
Als Viertes eine Werbebroschüre, die irgendwelche Finanzdienstleistungen anpries.
Egal, sagte ich mir. Ich habe Zeit.
»Hallo! Sie sind’s!« Wieder dieser Maler. Ich kenne ihn inzwischen. Er heißt Jean-Louis, sein Freund mit der Baskenmütze heißt Paupaul. Ich sehe die beiden oft im Le P’tit Pinson , wo sie Bier trinken und die Frauen anbaggern. Fünfzig Euro für eine Bleistiftskizze – genauer gesagt, zehn für die Skizze und vierzig für die Schmeichelei. Sie haben ihre Strategie bis ins letzte Detail ausgetüftelt: Jean-Louis ist der Charmeur – unscheinbare Frauen sind dafür besonders anfällig –, und seine Beharrlichkeit, nicht sein Talent ist das Geheimnis seines Erfolgs.
»Ich kaufe nichts, also verplempern Sie nicht Ihre Zeit«, sagte ich zu ihm, als er seinen Zeichenblock aufklappte.
»Dann verkaufe ich Laurent das Bild«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Oder ich behalte es selbst.«
Paupaul tut so, als ginge ihn das alles nichts an. Er ist älter als sein Freund und längst nicht so leutselig. Das heißt, eigentlich sagt er fast gar nichts, sondern steht an seiner Staffelei in der Ecke des Platzes,
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