Himmlische Wunder
schaut mit grimmiger Miene auf das Papier und kritzelt gelegentlich etwas. Dabei wirkt er so konzentriert, dass man schon fast Angst bekommt. Er hat einen einschüchternden Schnurrbart und lässt seine Kunden sehr lange sitzen, während er mürrisch immer weiter zeichnet und dabei wild vor sich hin murmelt, bis er ein Werk vorlegt, dessen Proportionen so bizarr sind, dass seine Kunden es schon aus lauter Respekt kaufen.
Jean-Louis skizzierte mich immer noch, als ich zwischen den Tischen durchging. »Ich warne Sie. Für so was verlange ich Geld.«
»Sehet die Lilien auf dem Felde«, entgegnete Jean-Louis unbeeindruckt. »Sie arbeiten nicht, und sie verlangen auch keine Modellgebühren.«
»Lilien müssen auch keine Rechnungen bezahlen.«
Am Morgen war ich nämlich auf der Bank. Wie jeden Tag diese Woche. Fünfundzwanzigtausend Euro bar abzuheben würde zu viel Aufmerksamkeit erregen, aber mehrere kleine Summen – tausend hier, zweihundert da – sind am nächsten Tag schon wieder vergessen.
Trotzdem sollte man sich nie in Sicherheit wiegen.
Also ging ich nicht als Zozie auf die Bank, sondern als die Kollegin, in deren Namen ich das Konto eröffnet hatte – als Barbara Beauchamp, eine Sekretärin mit makellosem Führungszeugnis. Ich zog mich für diesen Anlass betont dezent an. Zwar ist es nicht möglich, sich vollständig unsichtbar zu machen (außerdem würde das viel zu viel Unruhe auslösen), aber unscheinbar kann jeder sein, und eine durchschnittliche Frau mit Wollmütze und Handschuhen kommt fast überall unbemerkt durch.
Und genau das ist der Grund, weshalb ich es sofort gespürthabe. Ich hatte dieses komische Gefühl, beobachtet zu werden, als ich am Schalter stand, die Farben wurden greller – und dann die Bitte, einen Moment zu warten, während der Vorgang bearbeitet werde –, das roch und klang sehr danach, dass irgendetwas nicht stimmte.
Ich wartete lieber nicht ab, ob sich mein Verdacht bestätigen würde. Ich verließ die Bank, sobald der Kassierer außer Sichtweite war. Draußen steckte ich das Scheckbuch und die Karte in einen Umschlag, den ich in den nächstbesten Briefkasten warf. Der Adressat war frei erfunden. Die verräterischen Indizien werden die nächsten drei Monate von einem Postamt zum nächsten wandern, bis sie in dem Depot für unzustellbare Briefe landen, wo niemand sie je finden wird. Falls ich mal eine Leiche loswerden muss, werde ich genauso vorgehen: Ich werde Hände und Füße und kleine Leichenstücke in Päckchen packen und an undeutlich geschriebene Adressen überall in Europa schicken, während die Polizei vergeblich nach einem verscharrten Toten sucht.
Wobei Mord noch nie nach meinem Geschmack war. Trotzdem darf man keine Möglichkeit vollständig ausschließen.
Ich fand ein praktisches Kleidergeschäft, in dem ich mich von Madame Beauchamp wieder in Zozie de l’Alba verwandeln konnte. Dabei passte ich die ganze Zeit scharf auf, ob um mich herum irgendetwas Ungewöhnliches passierte, ging über Umwege zurück in meine Pension im unteren Montmartre und dachte über die Zukunft nach.
Verdammt.
Zweiundzwanzigtausend Euro waren noch auf Madame Beauchamps falschem Konto – es hatte mich viel Zeit und Mühe gekostet, dieses Geld zu beschaffen: sechs Monate Planung, Recherchen, Einübung einer neuen Identität. Und jetzt kam ich nicht mehr an dieses Geld ran. Zwar würde mich auf dem verschwommenen Überwachungsvideo sicher niemand erkennen, aber höchstwahrscheinlich war das Konto eingefroren worden und wurde jetzt von der Polizei überwacht. Ich musste es wohl oder übel einsehen – das Geld war futsch. Mir blieb nichts außer dem zusätzlichen Glücksbringeran meinem Armband – eine Maus, passend zu der armen Françoise.
Die traurige Wahrheit ist, so sage ich mir selbst, dass handwerkliches Können keine Zukunft mehr hat. Sechs vergeudete Monate. Ich bin wieder bei Null angekommen. Kein Geld, kein Leben.
Na ja, das kann sich schnell ändern. Ich brauche nur eine Inspiration. Fangen wir mit der Chocolaterie an, einverstanden? Mit Vianne Rocher aus Lansquenet, die sich aus bisher unersichtlichen Gründen in Yanne Charbonneau verwandelt hat, Mutter von zwei Kindern, angesehene Witwe in Montmartre.
Spüre ich eine verwandte Seele? Nein. Aber ich erkenne eine Herausforderung. Zwar ist aus der Chocolaterie im Moment nicht viel herauszuholen, aber Yannes Leben ist nicht ohne Reiz. Und außerdem hat sie dieses Kind. Dieses hochinteressante Kind.
Ich wohne in
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