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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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dafür gibt, dass sie Linkshänderin ist. Eigentlich ist sie sogar sehr geschickt mit den Händen, und sie malt gern, kleine Strichmännchen und -frauen, Affen – ihre Lieblingstiere –, Häuser, Pferde, Schmetterlinge. Alles noch ein bisschen ungeschickt, aber deutlich zu erkennen und in ganz verschiedenen Farben.
    »Iss ordentlich, Rosette«, sagte Thierry. »Nimm deinen Löffel.«
    Rosette aß weiter, als hätte sie nichts gehört. Eine Zeit lang dachte ich schon, sie sei taub, aber inzwischen weiß ich, dass sie alles ignoriert, was ihrer Meinung nach unwichtig ist. Schade, dass sie nicht auf Thierry hört. Sie lacht oder lächelt auch fast nie, wenn er da ist, zeigt selten ihre sonnige Seite und verständigt sich nicht einmal über Zeichen.
    Zu Hause, mit Anouk, lacht und spielt sie sehr vergnügt, stundenlang sitzt sie da und studiert ein Buch, hört Radio oder tanzt wie ein Derwisch durch die Wohnung. Zu Hause ist sie lieb, mal abgesehen von den Unfällen. Beim Mittagsschlaf legen wir uns zusammen hin, so wie ich es früher mit Anouk getan habe. Ich singe für sie und erzähle ihr Geschichten, sie passt ganz genau auf, und ihre Augen leuchten. Ihre Augen sind heller als die von Anouk, grün und klug wie die einer Katze. Sie singt mit – auf ihre Art –, wenn ich das Schlaflied singe, das meine Mutter mir beigebracht hat. Sie kann die Melodie, beim Text verlässt sie sich auf mich.
    V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,
    V’là l’bon vent, ma mie m’appelle
    V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,
    V’là l’bon vent, ma mie m’attend.
    Thierry sagt öfter, sie sei »ein bisschen langsam«, »eine Spätentwicklerin«, und schlägt vor, ich solle sie »mal testen lassen«. Das Wort Autismus ist noch nicht gefallen, aber das wird bald kommen. Wie viele Männer seines Alters liest er Le Point und glaubt deshalb, dass er auf allen Gebieten ein Experte ist. Ich hingegen bin nur eine Frau und außerdem noch die Mutter, wodurch mein Urteilsvermögen getrübt ist.
    »Sag Löffel, Rosette.«
    Rosette nimmt den Löffel und betrachtet ihn.
    »Komm schon, Rosette. Sag Löffel.«
    Rosette schreit wie eine Eule und lässt den Löffel einen frechen kleinen Tanz auf dem Tischtuch aufführen. Anouk denkt sicher, dass sie sich über Thierry lustig macht. Schnell nehme ich ihr den Löffel weg. Anouk presst die Lippen aufeinander, um nicht laut loszulachen.
    Rosette sieht sie an und grinst.
    Hör auf , sagt Anouk in der Zeichensprache.
    Quatsch , antwortet Rosette.
    Ich lächle Thierry an. »Sie ist doch erst drei –«
    »Fast vier. Das ist alt genug.« Er macht ein betont neutrales Gesicht, wie immer, wenn er findet, dass ich mich unkooperativ verhalte. Dadurch sieht er älter aus, weniger vertraut, und ich ärgere mich plötzlich. Das ist unfair von mir, ich weiß, aber ich kann nichts machen. Einmischung mag ich nicht.
    Ich bin schockiert, als ich merke, dass ich diesen Gedanken fast laut ausgesprochen hätte. Dann sehe ich, dass die Bedienung – Zozie – mich mit einem amüsierten Stirnrunzeln beobachtet. Ich beiße mir auf die Zunge und schweige.
    Ich sage mir, dass Thierry viele gute Seiten hat, für die ich dankbar sein muss. Es ist ja nicht nur der Laden oder seine Hilfsbereitschaft im vergangenen Jahr. Es sind auch nicht die Geschenke, die er mir und den Kindern macht. Nein, ich muss vor allem dankbar dafür sein, dass Thierry so überlebensgroß ist. Sein Schatten bedeckt uns alle drei, und in diesem Schatten sind wir wirklich unsichtbar.
    Aber er wirkt ungewöhnlich unruhig heute und kramt immer in seiner Tasche herum. Über sein Bier hinweg schaut er mich fragend an. »Ist irgendwas?«
    »Ich bin nur müde.«
    »Du musst dringend mal Ferien machen.«
    »Ferien?« Fast hätte ich gelacht. »Bald haben die anderen Ferien, weil Weihnachten ist. Und da verkaufe ich Pralinen.«
    »Heißt das, du willst den Laden weiterführen?«
    »Ja, klar. Wieso nicht? Bis zu den Feiertagen sind es keine zwei Monate mehr, und –«
    »Yanne«, unterbrach er mich. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann, in finanzieller Hinsicht oder sonst irgendwie –« Er legte seine Hand auf meine.
    »Ich schaff das schon«, sagte ich.
    »Ja, natürlich. Natürlich.« Seine Hand verschwand wieder in der Jackentasche. Er meint es gut, sagte ich mir. Und doch wehrt sich etwas in mir gegen jede Art von Einmischung, selbst wenn sie noch so lieb gemeint ist. Ich schlage mich schon so lange alleine durch, dass mir jede Art von

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