Himmlische Wunder
knallt. Laurent kennt ihn als Immobilienhändler. Er hat ihn schon gefragt, wie viel das Café bringen könnte, wenn es umgebaut und renoviert würde, und jetzt nennt er ihn M’sieur Thierry und begegnet ihm mit einer Unterwürfigkeit, bei der man nicht weiß, ob sie ein Ausdruck von Respekt ist oder nur die Hoffnung auf ein potenzielles Geschäft.
Mir fiel auf, dass er heute gepflegter und präsentabler aussah als sonst. Er trug einen sauberen Anzug und roch nach Rasierwasser, hatte den Hemdkragen zugeknöpft und eine Krawatte umgebunden, die irgendwann in den späten siebziger Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Thierrys Einfluss, dachte ich. Später sah ich es allerdings anders.
Ich überließ die beiden ihrem Schicksal und setzte mich an einen Tisch, bestellte Kaffee für mich und eine Cola für Anouk. Früher hätten wir eine Schokolade getrunken, mit Sahne und Marshmallows, und wir hätten sie mit einem winzigen Löffelchen gelöffelt, aber jetzt nimmt Anouk immer eine Cola. Zurzeit trinkt sie keine Schokolade. Irgendeine Diät, dachte ich zuerst und war irgendwie gekränkt, was sich völlig absurd anfühlte, so ähnlich wie damals, als sie das erste Mal keine Gutenachtgeschichte mehr hören wollte. Sie ist immer noch so ein sonniges kleines Mädchen und trotzdem spüre ich die Schatten in ihr, jeden Tag ein bisschen stärker, diese Orte, zu denen ich nicht eingeladen werde. Ich verstehe sie gut, schließlich war ich auch so. Und ist nicht gerade das ein Teil meiner Angst, dass ich in ihrem Alter genau das machen wollte? Ich wollte ausreißen, um nur möglichst weit weg von meiner Mutter zu sein.
Die Kellnerin war neu, kam mir aber irgendwie bekannt vor. Lange Beine, enger Rock, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als ich ihre Schuhe sah, wusste ich gleich, wer sie ist.
»Zoë, stimmt’s?«, sagte ich.
»Zozie.« Sie grinste. »Tolles Café, was?« Sie machte eine komische kleine Geste, als wollte sie uns hereinbitten. »Aber trotzdem«, sie senkte die Stimme und wisperte: »Ich glaube, der Besitzer hat es auf mich abgesehen.«
Thierry lachte laut, als er das hörte, und Anouk reagierte wie so oft mit einem schiefen Lächeln.
»Der Job hier ist nur auf Zeit«, fügte Zozie noch hinzu. »Bis ich etwas Besseres finde.«
Als Tagesgericht gab es Choucroute garnie – ein Gericht, das mich irgendwie an unsere Zeit in Berlin erinnert. Erstaunlich gut für das Le P’tit Pinson , was ich Zozie zuschrieb und nicht einem wiedererwachten kulinarischen Ehrgeiz bei Laurent.
»Jetzt ist doch bald Weihnachten, brauchen Sie da nicht ein bisschen Hilfe in Ihrem Laden?«, fragte Zozie, während sie die Würstchen vom Grill nahm. »Wenn ja, dann würde ich mich gern anbieten.« Sie schaute sich nach Laurent um, der mit gespieltem Desinteresse in seiner Ecke stand. »Klar – ich würde natürlich nur ungern von hier weggehen, aber –«
Laurent gab ein lautes Geräusch von sich, bei dem man nicht recht sagen konnte, ob es ein Niesen war oder ob er einfach nur Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte – Mmuh! –, und Zozie zog belustigt die Augenbrauen hoch.
»Denken Sie doch mal darüber nach!«, sagte sie grinsend, und mit einer Geschicklichkeit, die man nur erwirbt, wenn man jahrelang in einer Bar gearbeitet hat, nahm sie vier Glas Bier und trug sie zum Tisch.
Danach redete sie nicht mehr viel mit uns. Das Café füllte sich, und wie immer war ich ziemlich mit Rosette beschäftigt. Nicht, dass sie so ein schwieriges Kind wäre. Sie isst jetzt viel besser als früher, obwohl sie nach wie vor viel mehr sabbert als ein normales Kind und am liebsten die Finger nimmt, aber manchmal benimmt sie sich einfach seltsam, fixiert irgendwelche Dinge, die gar nicht da sind, zuckt bei Geräuschen zusammen, die sie sich nur einbildet, oder lacht plötzlich ohne jeden Grund. Ich hoffe, dass sie diese Phase bald überwindet. Seit ihrem letzten Unfall sind schon mehrere Wochen vergangen. Nachts wacht sie immer noch drei oder vier Mal auf, aber ich komme mit ein paar Stunden Schlaf ganz gut aus. Trotzdem hoffe ich, dass auch die unruhigen Nächte bald vorbei sind.
Thierry findet, dass ich sie verwöhne; und erst neulich hat er wieder gesagt, ich solle mit ihr zum Arzt gehen.
»Das ist nicht nötig. Sie wird schon anfangen zu sprechen, wenn sie so weit ist«, habe ich geantwortet.
Jetzt schaute ich zu, wie Rosette ihre Nudeln aß. Sie hält die Gabel immer in der falschen Hand, obwohl es sonst keine Anzeichen
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