Himmlische Wunder
Haarbüscheln.
Ich musste an Roux’ Hände denken. An seine geschickten Hände. Die Finger eines Taschendiebs, Maschinenöl unter den Fingernägeln.
»Komm schon, Yanne.«
Er zerrte mich durchs Zimmer. Seine Augen funkelten vor Vorfreude. Ich wollte protestieren, aber es war zu spät. Die Entscheidung war gefallen. Es gab kein Zurück. Ich folgte ihm zur Treppe.
Eine Glühbirne erlosch. Zischend, wie ein Feuerwerkskörper.
Glassplitter fielen auf uns.
Geräusche von oben. Rosette war aufgewacht. Ich zitterte vor Erleichterung.
Thierry fluchte.
»Ich muss nach Rosette sehen«, sagte ich.
Er gab Töne von sich, die nicht wie Gelächter klangen. Ein letzter Kuss, aber der Moment war vorüber. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas Goldenes aufleuchten, vielleicht einen Sonnenstrahl, vielleicht eine Spiegelung …
»Ich muss nach Rosette sehen, Thierry«, wiederholte ich.
»Ich liebe dich«, sagte er.
Ich weiß, ich weiß.
Es war zehn Uhr, und Thierry war gerade gegangen, als Zozie kam, in einem warmen Mantel, dazu trug sie violette Plateaustiefel. Sie schleppte einen klobigen Karton, der ziemlich schwer aussah. Ganz vorsichtig stellte sie ihn auf den Boden. Ihr Gesicht war gerötet von der Anstrengung.
»Entschuldige, dass ich erst so spät komme«, sagte sie. »Aber das Ding hier ist verdammt schwer.«
»Was ist es?«
Sie grinste. Dann ging sie zum Schaufenster und holte die roten Schuhe heraus, die seit ein paar Wochen dort standen.
»Ich dachte, wir müssen mal wieder etwas ändern. Wie wär’s mit einer neuen Schaufensterdekoration? Ich meine – wir wollten es ja nicht ewig so lassen, und ehrlich gesagt, ich vermisse meine Schuhe.«
Ich lächelte. »Ja, klar.«
»Also habe ich das da auf dem Flohmarkt gekauft.« Sie deutete auf den Karton. »Ich habe eine Idee, die ich gern ausprobieren würde.«
Ich spähte zuerst in die Schachtel, dann schaute ich Zozie an. Von Thierrys Besuch, von Roux’ plötzlichem Erscheinen und von den Komplikationen, die das alles zwangsläufig mit sich brachte, war ich so durcheinander, dass diese liebevolle Überraschungsgeste mich fast zu Tränen rührte.
»Aber das ist doch nicht nötig, Zozie.«
»Sei nicht albern. Es macht mir Spaß.« Sie musterte mich prüfend. »Ist irgendwas?«
»Ach, wegen Thierry.« Ich versuchte zu lächeln. »Er hat sich in den letzten Tagen so komisch verhalten.«
Sie zuckte die Achseln. »Das wundert mich nicht«, sagte sie nüchtern. »Dir geht es gut, das Geschäft läuft hervorragend, endlich geht es bergauf für dich.«
Ich runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Wie ich das meine?«, erwiderte Zozie geduldig. »Thierry will immer noch der Weihnachtsmann und der Märchenprinz und der heilige Wenzeslaus sein, alles in einer Person. Das war okay, als du noch zu kämpfen hattest, er hat dich zum Essen eingeladen, dir schicke Kleider gekauft, dich mit Geschenken überschüttet, aber jetzt bist du anders. Du musst nicht mehr gerettet werden. Jemand hat ihm seine Aschenputtel-Puppe weggenommen und gegen eine lebendige Frau ausgetauscht, und damit kann er nicht umgehen.«
»So ist Thierry doch gar nicht«, sagte ich.
»Wirklich nicht?«
»Na ja –« Ich grinste. »Vielleicht ein bisschen.«
Sie lachte, und ich lachte auch, obwohl ich mich auch schämte. Klar, Zozie ist eine ausgezeichnete Beobachterin. Aber hätte ich da nicht selbst drauf kommen müssen?
Sie öffnete den Karton.
»Vielleicht kannst du dich ja heute ein bisschen ausruhen, dich hinlegen, mit Rosette spielen. Und keine Sorge – wenn er kommt, sage ich dir Bescheid.«
»Wenn wer kommt?«, fragte ich betroffen.
»Also ehrlich, Vianne –«
»Du sollst mich nicht so nennen!«
Sie grinste. »Roux natürlich. Wen soll ich denn sonst meinen – den Papst?«
»Er kommt heute nicht«, sagte ich mit einem matten Lächeln.
»Woher weißt du das so genau?«
Ich erzählte ihr, was Thierry gesagt hatte. Ich erzählte von Thierrys Wohnung und dass er fest entschlossen sei, an Weihnachten mit uns dort einzuziehen, von den Flugkarten nach New York und von seinem Plan, Roux einen Job in der Rue de la Croix anzubieten.
Das verblüffte selbst Zozie. »Ehrlich? Er bietet ihm einen Job an? Na ja, wenn Roux den annimmt, dann braucht er wirklich sehr dringend Geld. Aus Liebe tut er es bestimmt nicht.«
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. »Was für ein Chaos«, sagte ich. »Warum hat er mir denn nicht gesagt, dass er kommt? Ich hätte ganz anders mit der Situation
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