Himmlische Wunder
ist es kalt. In New York sterben im Winter viele Menschen an der Kälte.
»Aber ich habe keinen Reisepass«, protestierte ich. »Ich hatte mal einen, aber –«
»Er ist abgelaufen? Ich kümmere mich darum.«
Na ja, in Wirklichkeit ist mein Pass mehr als abgelaufen. In meinem Pass steht ein anderer Name – Vianne Rocher –, und wie soll ich es Thierry beibringen, dass die Frau, die er liebt, eine andere ist?
Aber wie kann ich das jetzt noch verbergen? Die Szene gestern Abend hat mir etwas gezeigt: Thierry ist nicht ganz so kalkulierbar, wie ich immer dachte. Lügen sind wie wucherndes Unkraut, und wenn man sich nicht früh genug darum kümmert, zwängen sich ihre Blätter und Triebe überall dazwischen, breiten sich aus und legen alles andere lahm, bis nur noch das Lügennetz übrig bleibt.
Er stand dicht vor mir, seine blauen Augen waren hell – vor Angst, dachte ich, vielleicht aber auch von etwas anderem. Er roch irgendwie tröstlich, nach frisch geschnittenem Gras oder nach alten Büchern oder Pinienharz oder Brot. Er kam noch näher, schloss mich in die Arme, ich lehnte den Kopf an seine Schulter (aber da war keine Kuhle, die nur für mich geschaffen schien). Es fühlte sich vertraut an, und doch spürte ich eine Spannung. Als würden sich zwei stromführende Leitungen gleich berühren.
Seine Lippen suchten meine. Wieder dieses elektrische Knistern. Halb Lust, halb Abwehr. Ich dachte an Roux. Verdammt, geh weg – nicht jetzt! Dann dieser ausgedehnte Kuss. Ich entzog mich ihm.
»Hör zu, Thierry. Ich muss dir etwas erklären.«
Er schaute mich fragend an. »Was musst du mir erklären?«
»Der Name in meinem Pass, der Name, den ich bei der Behörde angeben muss …« Ich holte tief Luft. »Das ist nicht derselbe Name wie der, den ich jetzt verwende. Ich habe meinen Namen geändert. Es ist eine lange Geschichte. Ich hätte dir das schon längst erzählen sollen, aber –«
Thierry unterbrach mich. »Das ist doch nicht wichtig. Du musstnichts erklären. Wir haben alle irgendetwas, worüber wir nicht reden wollen. Was geht es mich an, dass du deinen Namen geändert hast? Mich interessiert nur, wer du bist, und nicht, ob du Francine oder Marie-Claude heißt oder, was der Himmel verhüten möge, womöglich Cunégonde.«
Ich lächelte. »Du findest es nicht schlimm?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe dir versprochen, dich nicht zu verhören. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Ich muss nicht alles wissen. Es sei denn, du willst mir offenbaren, dass du früher mal ein Mann warst oder so was –«
Jetzt musste ich kichern. »Nein, keine Bange.
»Ich könnte es ja mal überprüfen. Um ganz sicherzugehen.« Seine Hand ruhte auf meinem verlängerten Rücken. Der nächste Kuss war härter, fordernder. Dabei fordert Thierry eigentlich nie etwas. Seine altmodische Höflichkeit gehört zu den Dingen, die mir von Anfang an gefallen haben, aber heute ist er irgendwie anders. Ich spüre eine Spur von Leidenschaft, die er bisher unterdrückt hat. Ungeduld. Hunger nach mehr. Einen Moment lang lasse ich mich mitreißen, seine Hände wandern aufwärts, zu meiner Taille, zu meinen Brüsten. Die Art, wie er mich küsst, ist in ihrer Gier fast kindlich, er küsst meine Lippen, mein Gesicht, als versuchte er, möglichst viel von mir zu besetzen, und dabei flüstert er die ganze Zeit: Ich liebe dich, Yanne, ich will dich, Yanne.
Halb lachend schnappte ich nach Luft. »Nicht hier. Es ist schon nach halb zehn!«
Er knurrte wie ein Bär. »Du denkst, ich warte noch sieben Wochen?« Und jetzt wurden seine Arme ebenfalls bärenhaft, er hielt mich fest, presste mich an sich, er roch nach Moschusschweiß und kaltem Zigarrenrauch, und plötzlich – zum ersten Mal in unserer langen Freundschaft – konnte ich mir vorstellen, mit ihm zu schlafen, nackt und verschwitzt zwischen den Laken, aber sofort regte sich Widerstand in mir.
Ich stemmte mich mit den Händen gegen seine Brust. »Thierry, bitte!«
Er bleckte die Zähne.
»Zozie kann jede Minute kommen.«
»Dann gehen wir nach oben, bevor sie kommt.«
Ich war schon ganz außer Atem. Sein Schweißgeruch wurde stärker, vermischt mit dem Geruch von kaltem Kaffee, Wolle und dem Bier von gestern Abend. Das Aroma war nicht mehr so tröstlich, ich musste an überfüllte Bars denken, an Fluchtversuche, die nur mit knapper Not gelangen, an unbekannte Betrunkene in der Nacht. Thierrys Hände sind Riesenpratzen, grapschig, voller Altersflecken und mit vielen kleinen
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