Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
oder Teilhard de Chardin, ob Ken Wilber oder Juliana von Norwich, ob Mechthild von Magdeburg oder Gregor von Nyssa, ob Origenes oder Rumi, ob Ibn Arabi oder Wilhelm von Saint-Thierry, ob Augustinus oder Thomas Merton: Die Geschichte ist voll von Männern und Frauen, die bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Biographien doch ein und dieselbe Erfahrung machten: dass es das Feuer der leidenschaftlichen Liebe – das Feuer des Eros – ist, das uns Menschen über uns hinauswachsen lässt; über uns hinaus zu einem erfüllten und kraftvollen Leben; zu einem Leben in der Gegenwart Gottes, des Göttlichen, des ewigen Seins. Ja, sie alle lassen uns wissen, dass sie auf den Flügeln des Eros ihre Reise durchs Leben bestritten – und dass er sie in die höchsten Höhen trug.
Und noch eines ist ihnen gemeinsam: Sie schöpfen aus derselben Quelle. Wissentlich oder unwissentlich nehmen sie alle Bezug auf diesen einen, ältesten Text über den Eros: Platons
Symposium
. Weil sie dort, in der der Rede der heilkundigen Priesterin Diotima, eine Deutung des Eros finden, in der sie beschreibt, wie diese unglaublich gütige Lebenskraft uns mit sich reißt, wenn wir uns ihr anvertrauen – wie sie uns ergreift, wenn wir uns das erste Mal verlieben oder in die Liebe fallen; wie sie uns dort abholt und mitnimmt auf „das weite Meer des Schönen“ bis zu dem Punkt, an dem wir das Schöne in allem gewahren und so umfassend in der Liebe sind, dass wir uns ins Leben verlieben: in Gott und die Welt, in dich und in mich. Lass mich die entscheidende Stelle zitieren:
„Denn das ist die richtige Weise, sich in den Liebesdingen zu bewegen oder von einem anderen dorthin geführt zu werden – indem man, bei den vielfältig Schönen beginnend, um des einen Schönen willen stetig aufsteigt, als ob man eine Leiter verwendete: von einem schönen Körper zu zweien und von zweien zu allen schönen Körpern, von den schönen Körpern sodann zu den schönen Lebensweisen und von den schönen Lebensweisen zu den schönen Kenntnissen [vom Leben], bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, die von nichts anderem Kenntnis ist als von jenem Schönen selbst, und man zuletzt selbst erkennt, was das Schöne selbst ist. An diesem Punkt des Lebens, lieber Sokrates, erklärte die Mantineische Fremde, ist, wenn irgendwo, das Leben für den Menschen erst lebenswert, da er das Schöne selbst betrachtet. […] Glaubst du wohl, dass es ein schlechtes Leben sei, wenn ein Mensch dorthin blickte und immerdar jenes betrachtete und mit ihm verbunden wäre? Oder sagst du dir nicht, dass es ihm allein dort gelingen wird – indem er auf die Weise sieht, in der man das Göttlich-Schöne sehen kann –, nicht bloß Schattenbilder eines guten Lebens zu erzeugen, da er nicht mehr nur ein Schattenbild berührt, sondern ein wahrhaft gutes Leben, da er ja die Wahrheit berührt?“
(Symposium, 211b-212a)
Es ist eine Lebensreise, die Platon durch den Mund der Diotima skizziert. Und sie ist oft genug falsch verstanden worden; so als wolle er uns dazu auffordern, uns im Zuge des Lebens immer mehr zu vergeistigen oder zu verklären, als ginge es Diotima darum, die sexuelle Leidenschaft zu überwinden, um sich einer körperlosen, rein geistigen, platonischen Liebe hinzugeben. Doch davon ist nicht die Rede. Der Aufstieg über die „Stufenleiter“ des Eros – wie diese Rede oft genannt wird – ist keiner, bei dem wir auf jeder höheren Sprosse die untere absägen. So kämen wir auch keinen Deut weiter. Nein, es ist ein Weg, bei dem die voranschreitende Sehnsucht nach
weiter, offener, tiefer
sich die Waage hält mit der Integration der Entwicklungsstadien, die man bis dahin durchlebt und erprobt hat. So wird der vollendete Meister der erotischen Lebenskunst sich bei aller spirituellen Reife durchaus auch an den Körpern schönerFrauen erfreuen. Auch die erotisch gereifte Frau, die die göttliche Schönheit in allem erkennt, wird gleichwohl ihre Sexualität leben und sich an der körperlichen Liebe freuen. Kurz: Auf dem Weg des Eros wird nichts überwunden, sondern alles integriert. Er ist ein Weg der Fülle – der integrale Weg schlechthin, der Weg einer integralen Lebenskunst.
Die Geometrie der Seele
Ohne Eros seid ihr euch nur der
trägeren äußeren Schichten bewusst
.
Eva Pierrakos
Ich komme dir zuvor. Ich weiß, was du entgegnen wirst. Du wirst eine Deutung der Rede der Diotima einfordern und mich darauf hinweisen, dass sie reichlich
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