Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
interpretationsbedürftig ist. Ich höre schon deine Fragen: Wie können wir Diotimas bildhafte, teils mythische Rede in unsere Sprache und unsere Welt übersetzen? Was heißt es, auf den Schwingen des Eros durchs Leben zu segeln? Wie sieht eine erotische Lebenskunst aus, und was sind die wichtigsten Etappen auf ihrem Weg? Gute Fragen! Danke. Sie erlauben es mir, ein bisschen weiter auszuholen. Denn um sie zu beantworten, muss ich mich mit dir darüber verständigen, was es eigentlich bedeutet, ein Mensch zu sein. Und diese Frage führt mich zum dem weiten und schwierigen Thema Bewusstsein. – Warum? – Weil das menschliche Bewusstsein das Reich ist, durch das der Eros uns führt. Mir scheint, wir verstehen Diotimas „Stufenleiter“ nur dann richtig, wenn wir sie als einen Prozess der Bewusstwerdung deuten. Oder besser: einen Prozess der Entfaltung des Bewusstseins, das wir sind und das durch die Energie der leidenschaftlichen Liebe in uns entfaltet werden möchte. Fragen wir also: Was ist unser Bewusstsein?
Hm, wenn es so einfach wäre! Lass es mich wie folgt versuchen: Bewusstsein ist mehrdimensional. Und es ist eines der größten und erstaunlichsten Phänomene, dass wir als Menschen das Vermögen besitzen, zwischen verschiedenen Bewusstseinsdimensionen zu wechseln. Je nachdem, in welcher Dimension wir uns bewegen, werden wir zu einer unterschiedlichen Sicht der Dinge kommen: von Gott und der Welt und vor allem von uns selbst.
Ich spreche bewusst von Bewusstseinsdimensionen. Denn die darin anklingende Analogie zu den geometrischen oder physikalischen Dimensionen, die wir noch aus der Schule kennen, ist nach meiner Erfahrung für das Verständnis der inneren Struktur des Bewusstseins äußerst hilfreich. Die Geometrie unterscheidet zwischen:
Um einen Würfel zu konstrurieren, braucht man sechs Flächen. Um eine Fläche zu konstruieren, braucht man drei Linien. Um eine Linie zu konstruieren, braucht man Punkte. Den Punkt – er ist sehr rätselhaft – lassen wir kurz beiseite. Klar aber ist, dass die Linie die erste Dimension darstellt, die Fläche des Körpers die zweite und seine Tiefe die dritte Dimension. Der Körper (= Würfel) ist in diesem Modell ein dreidimensionales Seiendes, dessen Sein wir aber nur dann verstehen, wenn wir uns klarmachen, dass er – wie Heidegger es vielleicht formuliert hätte – im offenen Raum des Seins west: der vierten Dimension. Wobei das Aufregende ist, dass dieser Raum (vierte Dimension) in gewisser Weise wieder mit dem Punkt zusammenfällt, „aus dem heraus“ die Linie (erste Dimension) generiert wird.
Wichtig ist mir, dass alle vier Dimensionen immer und jederzeit gleichzeitig da sind. Und dass nur unser Blick auf den Würfel erlaubt, die vier Dimensionen zu unterscheiden.
Was hat das nun mit unserem Bewusstsein zu tun? Folgendes: Der geometrische Körper steht in Analogie zu dem, was wir als individuelleMenschen sind – und zwar in der Tiefe und nicht nur in der alltäglichen, oft flachen Weise unseres Selbstverständnisses. Der über Tiefe verfügende, dreidimensionale Würfel steht also für ein umfassendes Bewusstsein, für ein Bewusstsein von uns selbst, in dem sich das seiende Wesen, der individuelle Mensch, seiner selbst wirklich durchdringend bewusst ist. Im Unterschied zum zweidimensionalen, flachen
Ich-Bewus
stsein nenne ich das die eigene Individualität (= den ganzen Würfel) in ganzer Tiefe umfassende Bewusstsein
Seelenbewusstsein
. Und dann sind da noch die beiden anderen Bewusstseinsdimensionen, deren eine in Analogie zur Linie (
Körperbewusstsein
) und deren andere in Analogie zum Raum (
Geistbewusstsein oder mystisches Bewusstsein
) steht. Was hat es damit auf sich?
Das Körperbewusstsein
Das Bewusstsein der ersten Dimension nenne ich Körperbewusstsein. Körperlichkeit ist die fundamentale Dimension unseres Daseins, ohne die uns die anderen Dimensionen völlig verschlossen blieben – ganz so, wie sich kein Körper konstruieren lässt ohne die Linien, aus denen sich seine Flächen generieren. Friedrich Nietzsche hat eine klare Wahrnehmungdavon, wenn er seinen Zarathustra sagen lässt: „Körper bist du und sonst nichts.“ In der Dimension des Körperbewusstseins halten wir uns immer dann auf, wenn wir uns ganz mit unserem Körper identifizieren. Langstreckenläufer kennen das, ebenso aber auch Wellness-Liebhaber, die wissen, wie schön es sich anfühlt, ganz und gar Körper zu sein. Es kann sich aber auch gar nicht schön
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