Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben

der Liebe bist. Deswegen scheint es mir wichtig zu sein, uns immer wieder dieses Gefühl in Bauch und Herz zu vergegenwärtigen. Deshalb halte ich es buchstäblich für not-wendig, sich zu Bewusstsein zu bringen, dass es gut war, verliebt zu sein – selbst da, wo es wehtat. Denn das Leben war intensiv, es leuchtete in kräftigeren Farben, wir waren begeistert, kreativ, spontan, achtsam, mutig – wir waren glücklich. Denn wir konnten Ja sagen zu uns und unserer/m Liebsten, wir konnten Ja sagen zu Gott und der Welt. Und weil wir das konnten, wussten wir auch, wann es Zeit war, Nein zu sagen und beherzt Veränderungen anzustreben. Ja, wir fühlten uns lebendig, zuhause in dieser Welt und diesem Leben. Es ging uns gut.
    Wenn wir diese Erfahrung erinnern und in unser Bewusstsein heben, dann können wir das Ziel unserer Reise in Auge fassen: ein reifes Leben; ein bewusstes Leben, das frei ist von den Anhaftungen und Verstrickungen unseres Ego; ein Leben, das sich dauerhaft in der Liebe hält, intensiv und kraftvoll; ein Leben in der Liebe, voll Leidenschaft und Leichtigkeit; ein intensives, prickelndes Leben; ein Leben, das zwar nicht schmerzfrei wäre, dafür aber bunt und lebendig, voller Lachen und Tränen, voller Hingabe und Zärtlichkeit. Wir wären verliebt ins Leben, verliebt nicht nur in dich oder mich, sondern in einfach alles, was ist – offenen Herzens und achtsamen Sinnes.
    Lass uns einen Augenblick bei dieser Vision eines guten und glücklichen Lebens bleiben. Denn daran ist mir eines ganz wichtig: Das Leben in der Liebe – dieses intensive Leben aus dem Herzen – ist weder schmerzfrei noch sorglos. Es ist ein Leben, bei dem wir mit der liebenden Kraftdes Herzens Licht und Schatten umfassen und in ein Ganzes integrieren. Es ist kein Leben in ungetrübter Seligkeit – kein Leben von Göttern, die „droben im Licht“ wandeln, auf „weichem Boden“, wo „glänzende Lüfte sie sacht berühren“ (Hölderlin). Nein, es ist das durchwachsene, aber bejahte Leben von uns Menschen, denen gegeben ist, „auf keiner Stätte zu ruhen“ – „wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, jahrelang ins Ungewisse hinab“ (nochmal Hölderlin). Das Leben in der Liebe, das mir der kostbarste, tiefste und intensivste Zustand zu sein scheint, den Menschen über die Spanne ihres Daseins erreichen können – dieses Leben ist gemischt aus Seligkeit und Schmerz, aus Lust und Leid, aus Freude und Frust. Aber das genau macht wohl seine Größe aus: diese integrierende Kraft, die vor nichts die Augen verschließt und alles in Liebe zu einem Ganzen fügt. Solch ein Leben, mein Lieber, ist in meinen Augen ein wahrhaft menschliches Leben, bei dem Menschsein sich zu seiner größten Größe und blühendsten Schönheit entfaltet.
    Manche Leute wären gewiss gern ein Gott oder göttlich, schon zu Lebzeiten. Und manch ein spiritueller Lehrer verspricht ihnen, den Weg dorthin zu weisen. Der Weg der Liebe legt es nicht darauf an. Er ist ein menschlicher Weg. Er macht den Menschen nicht zu einem Gott, dafür aber zu einem Menschen im vollen Sinne – zu einem, der das Potenzial des Menschseins auslebt; der Licht und Schatten in sich vereint; der alles, was er ist, integriert und zu Bewusstsein bringt; der frei ist und glücklich, leicht und lebendig, in der Fülle der Seins und der Einfachheit der Wahrheit.
    Der erste Schritt zu dem, was ich eine erotische Lebenskunst nenne – die dem „Verliebe dich ins Leben!“ folgt –, besteht darin, sich vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung des Verliebtseins ein inneres Bild davon zu verschaffen, wie ein blühendes, menschliches Leben in der Liebe aussehen kann, damit wir uns nicht den Blick von falschen Heilsversprechen vernebeln lassen. Sobald wir das getan haben, können die nächsten Schritte folgen. Dann können wir uns deinen Fragen zuwenden: Wie kommen wir dahin? Wie kommen wir dazu, aus unserer ersten Liebe eine Haltung fürs Leben zu machen? Wie schaffen wir es, nicht nur hierund da in die Liebe zu fallen, sondern dauerhaft in der Liebe zu sein? Wie kommen wir dazu, uns ins Leben zu verlieben?
    Ich bin davon überzeugt, es gibt eine Antwort auf diese Fragen, wahrscheinlich sogar mehrere. Doch eine ist mir besonders vertraut. Sie leuchtet mir besonders ein. Und nicht nur mir, denn über Jahrtausende haben Menschen im Osten und Westen sich diese Antwort zu eigen gemacht und ihre Wahrheit bestätigt. Wie lautet diese Antwort? Eros.
    Ob Plotin oder Hölderlin, ob Johannes vom Kreuz