Hingabe
mehr Zeit mit ihr zu verbringen, mehr als nur diese Wochenendbeziehung zu führen, wusste aber auch um ihren Ehrgeiz und Spaß an ihrem Job und hatte sich meistens gut mit diesem Kompromiss arrangiert.
Jedenfalls noch. Das wusste Lena. Während sie sich einen Kaffee in der Teeküche holen wollte, dachte sie: ‚Berlin wäre doch der ideale Zeitpunkt, dass Marcus zu ihr kommt und auch in Berlin arbeitet. Zusammenziehen.´
Würde sie mit dem Kompromiss leben können, ihre Singlewohnung aufzugeben und mit Marcus zusammenzuziehen und dafür endlich ihren Traumjob anzunehmen?
Diesen Gedanken im Kopf lächelte Lena, als ein blonder Wirbelwind um die Ecke kam.
„Na, Süße?“
Marie blinzelte um die Ecke.
„Was wollte unser Boss von dir?“
„Marie.“
Lena wurde zwei Zentimeter größer.
„Er hat mir die Projektleitung in Berlin angeboten.“
Marie zog einen Schmollmund.
„Das habe ich mir doch gedacht.“
„Ist doch der Hammer! Aber dann bist du 250km weg und dann sehen wir uns gar nicht mehr. Gewünscht hast du es dir doch und seit einiger Zeit darauf hingearbeitet!“
Lena nickte stolz und mit leichtem Wehmut in der Stimme sagte sie:
„Unsere Gespräche werden mir fehlen, deine Nähe wird mir fehlen, ich werde dich vermissen!“
Sie breitete ihre Arme aus und drückte Marie.
„Du wolltest mir doch vorhin etwas erzählen?“, fragte diese plötzlich.
Lena schloss für einen Moment die Augen und erlebte für einen einzigen Moment den besonderen Moment der U-Bahn-Fahrt erneut.
„Marie, hast du schon einmal jemanden gespürt, ohne IHN zu sehen, geschweige denn zu kennen?“
Marie löste sich aus der Umarmung und schaute ihre Freundin durchdringend an.
„Was habe ich?“
„Ich habe heute Morgen in der U-Bahn gespürt, wie ein Blick eines Mannes auf mir geruht hat, männlich, stark, intensiv. Ich habe IHN nicht mal gesehen, und doch seinen Blick und seine Präsenz gespürt. Ich habe IHN gerochen. ER hat nur zwei Worte gesagt – mehr nicht. Und es ist, als würde ich IHN unter Tausenden mit geschlossenen Augen wiedererkennen.“
Lena fühlte sich bei diesen Worten wie eine Marionette, fast willenlos. Biegsam und doch voller Sehnsucht.
Marie starrte sie an:
„Süße, was hast du eben gesagt? Das klingt ja wie…“
Doch in Lena Augen las sie, das jedes ihrer Worte wahr war. Lena hatte dies tatsächlich erlebt und dieses Gefühl gehabt.Ihre Freundin, die annähernd perfekt und geraden Schrittes durchs Leben ging, und nun hebelten sie zwei Worte aus und versetzten sie in Unruhe?
„Was hast du gefühlt, was hast du gedacht, in dem Moment? Wie fühlte es sich an?“
Marie schaute interessiert und gleichzeitig besorgt zu ihrer Freundin.
„Freiheit, totale Hingabe – der Wunsch nach Fallen und Aufgefangen-werden…“
Wie von alleine formten Lenas Lippen diese Worte, ohne dass sie sich vorher überlegte, was und wie sie es sagte.
Sie hielt inne und dachte über Maries Fragen nach. Ja, genau so hatte es sich angefühlt.
Die beiden Freundinnen schauten einander an.
„Du hast ein wundervolles Wochenende mit Marcus gehabt, hast du mir heute Morgen berichtet. Erzähle mir nicht, du hast nicht daran gedacht, nach Berlin zu fahren und ihn dazu zu bringen, auch dorthin zu kommen. Und jetzt erzählst du mir etwas von einem Gefühl von Freiheit?“
„Marie, glaubst du, ich verstehe es? Vielleicht will ich es gar nicht verstehen oder muss es nicht verstehen. Es war einfach wie ein kühler Luftzug im Sommer, der dich für einen winzigen Moment frösteln lässt, bevor du dich dann versiehst, ist es auch schon wieder vorbei, als wäre nichts gewesen. Hättest du mich nicht gefragt, hätte ich mich kaum noch daran erinnert.“
„Du hast sicher Recht. Essen wir nachher zusammen? Ich glaube, bei Angelo ist heute der Chefsalat im Angebot.“
Angelo war ihr Stammitaliener, dem sie öfter in ihrer Mittagspause einen Besuch abstatteten. Eine kleine, gemütliche Trattoria mit kleinen Tischen, verwinkelten Nischen und einer kleinen Sommerterrasse, die den beiden Freundinnen erlaubten,wenigstens in der Mittagspause etwas Sonne zu tanken. Meist zogen sie die Blicke von Männern auf sich, Blicke, mit denen Männer den Anblick attraktiver Frauen würdigen und sich einfach freuen, dass Sommer ist.
Die beiden gingen zu ihren Plätzen im Büro. Marie Richtung Chefbüro und Lena in ihre Ecke des Großraumbüros. Von dort ließ sich sowohl über die Binnenalster als auch über die Dächer der Stadt blicken.
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