Hingabe
viel Zeit bleiben, sich von Hamburg zu verabschieden. Von ihren Freunden. Von ihrer Arbeit. Von ihrer Stadt.
Den Umzug würde die Firma organisieren und übernehmen. Darüber musste sie sich sicher keine Gedanken machen. Vielleicht würde sie auch erst mal im Hotel wohnen.
Aber das Sinnieren darüber hatte noch Zeit. Ganz sicher sollte das nicht ihr Thema des Abends bleiben. Sie hatte morgen eine wichtige Besprechung, von der ein großer beruflicher Schritt für sie abhing. Darauf musste sie sich jetzt konzentrieren. Nur darauf.
Lena schaute auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Sie ging zum Tisch, um sich noch einen Wein einzuschenken. Sie schaute auf das Etikett. Ein halbtrockener Acolon. Aus Württemberg.
‚Deutsche können also auch hervorragenden Rotwein machen‘, dachte sie.
Mit dem Rotwein in der Hand ging sie zum Fenster und schaute auf das abendliche Berlin. Es würde ihr neuer Wohnort werden, ihr Lebensmittelpunkt.
Sie hatte M.s Brief gelesen, aber er hatte ihr morgens gemailt. Hatte es Zeit bis morgen, um die E-Mail zu lesen? Nein, das wäre unklug. Er hatte ihr bereits morgens gemailt. Und sie vertraute ihm. Zudem war sie mehr als neugierig. Sie beschloss, den Laptop noch einmal anzumachen. Die Mail von M. hatte sie ja im Büro nicht gelesen. Sie sah aus dem Fenster, trank einen Schluck Wein, während der Rechner bootete.
Sie öffnete das E-Mail-Programm.
Firmenmails.
Und seine Mail.
Lena trank noch einen Schluck von dem Wein und klickte auf „Öffnen“.
Und sie las:
„Lena,
Wie gefällt dir deine neue Stadt?
Du wirst bald ganz dort sein.
Was glaubst du,
wo ich sein werde?
Was wünschst du dir?
M.“
Wunderbar. Jetzt formulierte er auch noch ihre Gedanken zu Fragen. Alles wollte und würde sie niemals aus der Hand geben.
Wie wird es sein, in Berlin?
Würde sie ihn wiedersehen?
Würde sie es können, würde sie es wollen?
Was wird mit Marcus, mit Marcus und ihr?
Lässt sich das, was in den letzten drei Tagen in Hamburg geschehen war, mit ihrem Start in Berlin vereinbaren?
Lena seufzte. So viele Fragen.
Urplötzlich lächelte sie.
Andere Menschen in ihrer Situation wären verzweifelt. Soviele Probleme, so viele ungelöste Fragen, die sich auftürmten.
Lena war indes der Meinung, dass sie privilegiert war. Sie hatte jetzt mit Mitte 30 so viele Möglichkeiten, andere Menschen waren mit 25 schon so eingefahren, dass die Langeweile und Eintönigkeit ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden waren.
Und SIE lebte. Das spürte sie gerade in solchen Momenten, in denen sie sich selber entscheiden konnte, welchen Weg sie gehen wollte.
Selber entscheiden, nicht andere entscheiden lassen.
Bei diesem Gedanken spürte sie, wie ihr Bauch kribbelte und sich das Blut in ihrem Unterleib sammelte. Sie glitt mit ihrer Hand ihren Schenkel entlang und verweilte kurz in ihrem Schritt. Es pochte.
Aber natürlich. Andere entscheiden lassen – das war in manchen Situationen allerdings sehr wunderbar.
Das hatte sie in den letzten Tagen und Nächten erfahren.
Lena wusste, sie würde heute keinesfalls mehr ihr Hotelzimmer verlassen. Sie nahm sich noch etwas von dem Essen und schenkte sich das Weinglas noch einmal nach.
Sie machte den Fernseher an. 21:15 Uhr.
Es würde kaum etwas Vernünftiges im Programm kommen. Aber um sich etwas die Zeit beim Essen zu vertreiben, reichte es. Sie zappte ein wenig durch die Kanäle und blieb bei einer Naturdokumentation hängen. Hervorragend. Besser als eine flache Serie.
Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, dass sie eine neue Mail erhalten hatte. Sie blickte auf den Monitor.
M. hatte geschrieben.
„Zum Teufel nochmal“, sagte Lena halblaut zu sich selber, „du kannst gar nicht wissen, dass ich den Laptop noch anhabe. Ich hab keine Lesebestätigung gesendet, du kannst nicht wissen, in welchem Hotel ich bin. Was schickst du mir denn da?“
Lena wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er verhielt sich manchmal wie ein Stalker, mehr noch. Er war wie ein Voyeur mit ständiger Präsenz, der überall zu sein schien. Er wusste, wann sie wo war. Er wusste, welche Gedanken in ihrem Kopf herumschwirrten.
Er sprach mit ihr, er unterhielt sich mit ihr, ohne wirklich anwesend zu sein. Es war ein bisschen, als würde seine Hand sie stützen.
Lena dachte an Police, den Text von Sting. Er passte genau:
“Every breath you take, every move you make… i’ll be watching you.“
Und sie las:
„Lena,
Ich schicke dir meine Gedanken
In deine Träume.
Wir werden uns
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