Hinreißend untot
immer damit beschäftigt, einen Tunnel zu graben, und dabei ging es so laut zu, dass ich ihn nicht verstand. Außerdem bemühte ich mich nach wie vor, mit dem Schmerz fertig zu werden, den mir der enttäuschte
Geis
bereitete.
Je weiter ich mich von Mircea entfernte, desto schlimmer wurde es, bis ich kaum mehr wusste, was um mich herum geschah. Tränen nahmen mir die Sicht, in meiner Magengrube folgte ein Krampf dem anderen, und das Atmen fiel mir immer schwerer. Ich erinnerte mich an Casanovas Hinweis, dass unter einem
Geis
stehende Leute Selbstmord begangen hatten, um den Trennungsschmerz nicht länger ertragen zu müssen, und jetzt verstand ich den Grund dafür.
Marlowe nahm Pritkin in den Schwitzkasten, und beide wankten gegen den Tresen, wodurch ich fast den Halt verloren hätte. Dann rammte Pritkin dem Vampir ein Messer in die Brust, und die beiden Männer taumelten auseinander. Doch der benommen wirkende und nach Luft schnappende Magier nutzte seinen Vorteil nicht aus, und Marlowe verzichtete ebenfalls auf einen neuen Angriff. Er zog sich einfach nur das Messer aus der Brust, als der Laden auf einmal zum Stillstand kam.
Meine Knie stießen an die Seite des Tresens, und ich konnte es gerade so vermeiden, darüber hinwegzusegeln. Doch ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit rückte etwas ganz anderes. Der
Geis
rührte sich plötzlich nicht mehr – er war wie abgeschaltet. Ich stellte fest, dass ich wieder atmen konnte, füllte mir die Lungen mit Luft. Sauerstoff und Erleichterung ließen mich schwindeln. Fast sofort drängte sich ein anderes Empfinden in den Vordergrund: Ich hatte Hunger.
Das Fehlen des Zaubers lieferte mir einen deutlichen Hinweis auf seine enorme Kraft. Ich hätte gleichzeitig lachen und weinen können. Die Befreiung vom Schmerz setzte auch der süchtig machenden, alles andere verdrängenden Wonne ein Ende. Und sofort begann das Verlangen.
Ich wankte um den Tresen herum, fühlte mich seltsam hohl und leer. Dann sah ich aus dem vorderen Fenster und riss die Augen auf. Was sich meinem Blick darbot, genügte völlig, um mich selbst vom
Geis
abzulenken. Vor dem Tätowierungsstudio erstreckte sich weder ein Sandsteinkorridor noch eine Wüstenlandschaft. Stattdessen sah ich eine Wiese mit hohem Gras, das sich in sanftem Wind hin und her neigte. Nach dem Stand der Sonne schätzte ich, dass es Mittag war, doch angesichts des diffusen Lichts konnte man kaum sicher sein. In der Ferne ragten die klaren, gezackten Konturen blauer Berge auf, ihre Gipfel schneebedeckt, aber die durch die offene Tür hereinwehende Luft war warm und roch nach wilden Blumen. Es war wundervoll.
Mac sah aus dem Nebenzimmer und juchzte. »Na bitte! Und es hieß, es sei unmöglich! Aber wir haben’s geschafft!« Ich bemerkte, dass sich seine Tätowierungen nicht mehr bewegten und ganz normal wirkten, und ich begann zu verstehen. Der verrückte Mac hat seinen Laden direkt durchs Portal ins Feenland gesteuert.
Zehn
Ich überließ es Mac und Pritkin, sich um Marlowe zu kümmern, und lief nach hinten. Tomas war auf dem gepolsterten Tisch festgebunden, den Mac für seine Tattoos benutzte. Sonderlich bequem schien er es nicht zu haben, aber wenigstens war er nicht im Zimmer hin- und hergeworfen worden. Zuvor hatte ich kaum mehr als einen flüchtigen Blick auf seine Wunden werfen können, doch jetzt presste ich die Lippen zusammen, um Jack nicht hingebungsvoll zu verfluchen. Nach einigen Sekunden überlegte ich es mir anders und verfluchte ihn doch.
Tomas stöhnte und versuchte, sich aufzusetzen, aber das ließen die Gurte nicht zu. Zum Glück, denn sonst wäre vielleicht etwas aus ihm herausgefallen. Jack hatte ihn von den Brustwarzen bis zum Nabel aufgeschnitten, wie bei einer Autopsie, oder wie ein Tier, das er ausweiden wollte. Ich starrte auf das, was einmal ein perfekter Körper gewesen war, und mir wurde kalt. Plötzlich wünschte ich mir, Augusta hätte Jack noch etwas mehr gequält und dann endgültig ins Jenseits geschickt.
Ich schluckte und wandte den Blick ab, zum einen deshalb, um mich nicht übergeben zu müssen, und zum anderen, weil ich nach etwas suchen wollte, das ich als Verband verwenden konnte. Vampire verfügten über erstaunliche Selbstheilungskräfte. So schlimm seine Wunden auch waren, vermutlich würde sich Tomas im Lauf der Zeit davon erholen. Aber es hätte ihm sehr geholfen, wenn irgendetwas die Ränder der Wunden zusammenhielt, und dafür benötigte ich Stoff – jede Menge. Auf dem Weg zu Laken und
Weitere Kostenlose Bücher