Hinter blinden Fenstern
Presse über sie herfiel und sie vorübergehend arbeitslos wären.
Aber allzu lange dachte sie nicht an sie. Zwei, drei Minuten. Dann war es still.
In dieser Stille hörte der Haß in ihr auf. Den Seufzer, den sie ausstieß – lauter als je einen Seufzer –, hörte sie nicht einmal richtig. Sie hörte eine Stimme. Und das war, was sie vor allem wahrnahm: eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Wieder nur Sekunden.
Dann erneut Stille.
Und sie wußte: Für alle Zeit war der Haß aus ihr gewichen, der wie ein glühender Vogel in ihr geflogen war, seit dem Tag – und es war Tag gewesen, nicht Nacht, es regnete nicht, sondern die Sonne schien, und es schneite nicht –, an dem Dinah aus dem weißen Zimmer verschwunden war und sie mit all den Verträgen und Träumen allein gelassen hatte. Das war jetzt neun Jahre her, und im nächsten Jahr hätten sie Jubiläum gefeiert.
Das brauchte sie nun nicht mehr. Der Kreis hatte sich schon heute geschlossen.
Und als sie – zum erstenmal in dieser Zelle – zum vergitterten Fenster hinaufsah, zur Nacht dahinter, zum verlorenen Himmel, sah sie Dinah da oben winken, am Fenster des Krankenhauses, wo sie beide jeden Mittag in der Kantine saßen und über alles lästerten, was auf den Teller kam, über den lätscherten Leberkäs und die noch viel lätscherteren Semmeln und den dämlichen Senf aus den Plastiktütchen.
Und sie redeten über ihre Reise zum Roten Meer, die sie seit fünf Jahren planten. Sie würden schwimmen wie Delphine, obwohl sie nicht schwimmen konnten, jedenfalls nicht wie Delphine, höchstens wie Hunde.
Die Reise, die sie immer wieder hatten verschieben müssen, weil die Arbeit ihnen keine Zeit ließ oder sie sich gerade gestritten oder sogar beruflich getrennt hatten, weil Dinah die Kunden im Lucy nicht länger ertrug, ohne daß Clarissa herausgefunden hätte, warum eigentlich.
Die Reise, die ihr Ziel geblieben war und über die sie auch während ihrer Trennungsphasen sprachen, wenn auch mit weniger Übermut. Aber fliegen würden sie, das stand fest, eines Tages im Sommer, wenn zu Hause die Männer mit ihren eigenen Frauen auf Familie machten. Sie würden fliegen und aus dem Flieger steigen und beim Aussteigen in der flammenden Luft nach Atem ringen. Und sie würden in dem Club, den sie gebucht hatten, einen Tauchkurs absolvieren, und dann würden sie tauchen und sich an den Händen halten, und nichts und niemand, kein Mann, kein Mensch, würde ihnen je wieder ein Leid antun. Und sie würden sich zuwinken unter Wasser, umzingelt von Weißfleckkugelfischen, Fähnchenfalterfischen, Pfauenkaiserfischen, Langnasenbüschelbarschen, Achtlinienlippfischen, Halbmondkaiserfischen, Kronenkugelfischen und Tausenden von leuchtenden, schwerelosen Weltbewohnern, deren Schönheit vielleicht ein wenig abfärbte, so daß nie wieder eine Nacht vollkommen häßlich sein würde.
In der Kantine des Krankenhauses saßen sie gebeugt über den magischen Prospekten und lasen sich gegenseitig die Namen der Fische vor, und um sie herum war alles still und ewiglich.
Und dann war die Zeit vorbei.
Zuviel Schnee in Dinah, der nicht schmolz.
Einmal ging Clarissa in den Liebfrauendom und zündete eine Kerze an.
Aber eine Kerze ist zu wenig, das hättest du doch wissen müssen, du dummer Fisch. Eine Kerze wärmt nicht einmal eine Katze.
Das alles ist vorbei, sagt Clarissa in der Zelle zum Fenster hinauf. Und Dinah erwidert: Gregorian war ein japanischer Kugelfisch, er hätte uns vergiftet. Ja, sagt Clarissa, und den Zeugen im Hof hab ich nicht bestellt, wer hat den bestellt? Gott, sagt Dinah und lacht. Und dann lacht auch Clarissa.
Sie lachte, und ihr Lachen hallte in der armseligen Zelle wider.
Als sie aufhörte zu lachen, war es, so schien ihr, noch stiller als zuvor.
Und sie stand immer noch da, mit dem Waschbeutel und dem Handtuch in den Händen, und betrachtete das Bett, die Pritsche mit der Matratze, und sie wußte, daß sich hinter der Tür neben ihr die Waschzelle befand, und sie wußte, sie würde sich schminken und ihr bestes Parfüm aufsprühen und in wenigen Stunden dem gutgekleideten Kommissar Fischer gegenübersitzen und ihm den Eindruck vermitteln, die Nacht in der Zelle habe ihren Willen gebrochen.
In Wahrheit – doch das würde Herr Fischer nie erfahren – ermöglichte die Zelle ihr überhaupt erst den Willen, alles auszusprechen, was sie im Angesicht von Fremden für aussprechenswert hielt. Vielleicht hätte sie sich, ohne eine Nacht lang eingesperrt worden zu
Weitere Kostenlose Bücher