Hinter blinden Fenstern
angelächelt. Und als sie den zweiten Stock erreichten, wo Valerie Roland schon bereitsaß, hatte sie um eine Tasse Kaffee gebeten.
»Möchten Sie noch mehr Kaffee?« fragte Fischer.
Sie schüttelte den Kopf, den Blick auf den Tisch gerichtet.
»Wußten Sie, daß Bertold Gregorian Ihren Lebensgefährten Fehring erstochen hatte, als Sie zu ihm gingen?«
Clarissa Weberknecht hob die Schultern. »Vorhin haben Sie mich ausführlich belehrt, daß ich verdächtigt werde, einen Stadtstreicher erschlagen zu haben. Was hat mein Mann damit zu tun?«
»Haben Sie den Obdachlosen erschlagen?«
»Nein.«
»Ihre Fingerabdrücke wurden in dem Müllhaus gefunden.«
»Ich hab Müll weggebracht.«
»Die Abdrücke wurden nicht irgendwo gefunden, sondern an der Kleidung und dem Rucksack des Opfers. Sie sind dem Mann begegnet.«
»Nein. Woher wissen Sie, daß es meine Fingerabdrücke sind?«
»Wir haben sie mit denen verglichen, die wir Ihnen vor einem Jahr abgenommen haben, wegen des Unfalls in Ihrem Club.«
»Und jetzt haben Sie meinen Club schon wieder zugesperrt. Aber nächstes Jahr feiern wir unser Zehnjähriges, und Sie werden mich nicht daran hindern, Herr Fischer, Sie nicht und niemand.«
»Ich werde Sie daran hindern«, sagte er.
»Träumen Sie schön weiter.«
»Ich träume nie, wenn ich in diesem Zimmer bin, und Sie sollten auch nicht träumen.«
»Das können Sie mir glauben: Eine Träumerin war ich nie.«
»Das glaube ich Ihnen. Und trotzdem sind Sie gescheitert.«
Im letzten Moment unterdrückte sie ein Lachen. Sekundenlang saß sie wie erstarrt. Dann schlug sie mit der rechten Hand durch die Luft, strich sich mit der Zunge über die Oberlippe, schüttelte den Kopf und schlug die Beine übereinander. Nachdem sie beide Hände auf ihren Oberschenkel gelegt hatte, zog sie die Augenbrauen hoch, sah Fischer eine Weile ins Gesicht und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Wand hinter ihm.
»Sehr katholisch hier«, sagte sie. »Ich wußte gar nicht, daß bei uns nicht nur in Schulen, sondern auch bei der Polizei Kreuze hängen müssen.«
»Niemand ist gezwungen, eines aufzuhängen.«
»Warum hängen die dann überall?«
»Stört Sie das Kruzifix?« sagte Fischer. »Soll ich es abnehmen?«
»Das würden Sie tun?«
»Natürlich.«
»Hing das im letzten Jahr auch schon da?«
»Ja.«
»Hab ich nicht bemerkt.«
»Soll ich es abhängen?«
»Nein«, sagte sie und wandte sich von dem Kreuz ab. »Mich stört doch so ein Ding nicht. Glauben Sie an Gott?«
»Und Sie?«
»Ich?« Sie lächelte und hörte mit einem harten Zucken damit auf. »Haben Sie schon einmal über folgendes nachgedacht, Herr Fischer: Angenommen, es gibt einen Gott, warum, Herr Fischer, gibt es dann Menschen? Und wenn es keinen Gott gibt, worüber machen wir uns dann andauernd Gedanken? Können Sie mir darauf eine Antwort geben? Nein. Das können Sie nicht.«
»Doch«, sagte er und dachte an die zweite Frau, die Clarissa Weberknecht so voller Trotz und unerschütterlicher Leidenschaft verbarg.
Noch mehr als gestern war Fischer überzeugt, diese andere Frau wäre die ungeschminkte und einzige Zeugin für das erbärmliche Erfrieren einer einstmals lodernden Prinzessin.
Und wieder fielen ihm die Narben auf.
»Wer hat Ihre Hände verletzt?« sagte Fischer.
»Sehen Sie: Sie wissen keine Antwort auf meine Fragen« , sagte sie.
»Wenn Gott existiert, ist es sein Wille, daß wir auch existieren.« Fischer legte die Hände auf den Tisch und faltete sie. Würde er seine Finger strecken, könnte er Clarissas Hand berühren.
»Das ist doch, was ich meine. Aber warum? Wie kann ein Gott Wesen wie uns wollen? Und ertragen? In der Schule hab ich gelernt, Gott ist gnädig und Jesus vergibt den Sündern und so weiter. Tut er nicht. Schauen Sie in die Welt. Nein. Wenn es einen Gott gäb, wären die Menschen überflüssig. Weil wir aber da sind, jedenfalls bilden wir uns das ein, kann dieser Gott, den Sie meinen, nur eine Täuschung sein, ein Spielzeug für Leute, die sich fürchten. Oder für Leute, die andere ihr Leben lang manipulieren wollen, das können Sie sich aussuchen, das macht keinen Unterschied.«
»Wie haben Sie dann Ihre Freundin Dinah getröstet, als sie im Sterben lag?« sagte Fischer.
Die Stille, die folgte, war wie ein Donner zwischen ihnen.
Valerie hörte auf zu schreiben und schüttelte ihre Hände aus.
Niemand hätte sagen können, wie viele Minuten vergingen. Rot und rissig traten die Narben hervor, während Clarissa die Fäuste
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