Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
das mit dem Sterben noch mal überlegt, hätte er hier an diesem Strand gesessen und nicht in einem Keller in Lingen? Magnus packt die Lunchpakete aus, die Eddy uns mitgegeben hat: zwei spitze Papiertüten, darin Reis mit Hühnchen. Ich gebe Magnus noch einen Kuss auf die Wange und klaue ein Stückchen Fleisch aus seiner Tüte.
»Deine Schläfen werden grau«, stelle ich fest.
Magnus kostet das Essen und behauptet, ich sei schuld daran. Er zeigt mir ein Haar: »Hier, das ist grau geworden, als du mir erzählt hast, dass du den Tod deines Vaters nachgespielt und dir mit einem Stift die Stellen auf den Körper gemalt hast, an denen er sich verletzt hat. Und dieses Haar hat seine Farbe verloren, als du nach Lingen gefahren bist und dich stundenlang nicht gemeldet hast.«
Magnus zwinkert mir zu und streicht eine Haarsträhne aus seinem Gesicht.
Ein leiser Seufzer seinerseits. Ich bin froh, dass er da ist.
»Bist du glücklich?«, frage ich ihn.
»Mein Glück sitzt neben mir. Es hat Sommersprossen und ist ebenso liebenswert wie sonderbar«, antwortet er.
»Hast du Angst vorm Sterben?«, frage ich ihn geradeheraus.
»Das meine ich mit ›sonderbar‹ …«
»Verrate es mir!«
»Was machst du dir jetzt schon wieder für Gedanken – hier und jetzt an diesem Strand willst du über den Tod reden? Ja, ich habe Angst vor Schmerzen oder einem langsamen Tod. So wie dein Vater möchte ich nicht enden. Lieber werde ich von einer Kokosnuss erschlagen.«
»Jetzt? Nein, du bist doch viel zu jung!«
»Ist doch egal, jeder muss sterben, Millionen von Menschen sind vor uns gestorben. In der Geschichte sind wir alle ein Komma. Vor was soll man Angst haben? Keiner weiß, was dann kommt. Ein Tunnel, ein Licht oder einfach nichts.«
»Das ist doch das Schlimme, diese Ungewissheit. Und welchen Sinn hat der ganze Stress im Leben, wenn danach nichts kommt?«
»Ich denke, es ist genauso wie bei der Geburt eines Menschen: Man bekommt weder den Anfang noch das Ende des Lebens mit.«
»Vielleicht können wir uns nur nicht daran erinnern.«
»Höchstwahrscheinlich müssen wir uns auch nicht daran erinnern, weil der Anfang und das Ende keine Rolle spielen, nur die Zeit dazwischen.«
»Das klingt wie ein Spruch aus dem Apothekenkalender. Und wie würdest du lieber sterben wollen?«
»Falls ich einen Unfall oder eine schwere Krankheit haben und im Koma liegen sollte, möchte ich keine lebensverlängernden Maßnahmen. Du kannst alle Geräte ausschalten. Ansonsten möchte ich als alter Mann im Kreis meiner Familie einschlafen. Mit den Kindern, Enkeln, Hund und Katze an meiner Seite.«
»Ich schalte gar nichts aus! Ich möchte nicht, dass jemand stirbt, keiner aus meiner Familie soll sterben und du stirbst sowieso nicht, kommt nicht infrage.«
»Irgendwann wird einer von uns sterben und ich bin mir sicher, unsere Eltern wollen, dass sie zuerst sterben und nicht wir.«
»Ich will aber nicht, dass meine Mutter stirbt. Sie darf nie sterben!«
»Und was ist, wenn ich sterbe?«
»Dann will ich nicht mehr leben.«
»Gut, dann weiß ich schon mal, was ich auf deinen Grabstein schreiben lasse: ›Hier ruht Helena Schulz, Zeit ihres Lebens eine Nervensäge mit Hang zu überstürzten Reiseplanungen und alkoholischen Getränken.‹«
»Wie soll ich es eine Sekunde ohne dich aushalten?«
»So wie alle anderen auch, die jemanden verlieren. Wir haben alle unser Päckchen zu tragen. Auch wenn es unvorstellbar ist: Das Leben geht weiter. Frag mal deine Mutter!«
»Welchen Sinn hat das: Man liebt jemanden und der stirbt dann. Das ist doch beschissen!«
»Das macht keinen Sinn, aber würdest du lieber ewig leben wollen?«
»Nein, aber ich finde den Tod krass – die Menschen sind einfach weg. Andererseits liebe ich dich so sehr, dass ich nicht wollen würde, dass du allein zurückbleibst und so wie meine Mutter um meinen Vater weinen musst. Ihre Tagebucheintragungen waren so verzweifelt. Also müsstest du doch zuerst sterben, damit ich um dich trauern muss und nicht du um mich.«
»Ist das eine Liebeserklärung? Vermutlich ist es egal, wer zuerst stirbt, weil man sich wiedersieht.«
»Im Himmel?«, frage ich und schaue ihn verwundert an. Magnus ist noch nicht mal getauft, mit der Kirche hat er nichts am Hut.
»Oder in der Hölle. Oder als wiedergeborenes Eichhörnchen im Stadtpark, wer weiß das schon.«
»Vor ein paar Monaten fühlte sich alles so einfach an: Wir waren verliebt. So will ich mich immer fühlen.«
»Was war einfach? Wir
Weitere Kostenlose Bücher