Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
kannten uns kaum, da mussten wir schon zusammen auf eine Beerdigung. Ich rechne dir hoch an, dass du damals mitgekommen bist.«
»Das hat uns zusammengeschweißt. Glaubst du, Thorsten hätte es hier gefallen? Vielleicht lag es an der Stadt?«
Magnus fährt sich durch die Haare, als er den Namen hört. Dann sagt er: »Es ist egal, wo man ist. Wenn man krank ist, ist man krank. Aber ob es am Stoffwechsel oder an einem falsch gelebten Leben liegt: Wer alles hinschmeißt, ist einer, der sein Buch in der Mitte beendet und sagt: ›Das ist ein schlechtes Buch.‹ Dabei weiß er gar nicht, was auf der nächsten Seite passiert. Und auf der danach.«
»Stell dir vor, Thorsten würde noch leben.«
»Das stelle ich mir jeden Tag vor und auch, wie er zu mir sagt: ›Das war eine schlimme Zeit, aber ich habe es dank meiner Familie und meinen Freunden gepackt. Jetzt nehme ich Tabletten, gehe zur Therapie und es geht mir besser.‹ Ich würde ihm sagen, dass ich stolz auf ihn bin, und fragen, ob ich ihn zu seinem Arzt fahren kann.«
»Das würde ich meinem Vater auch gern sagen. Ich frage mich, ob ich selbst je Kinder haben werde. Nicht jetzt, aber irgendwann. Was ist, wenn die Krankheit meines Vaters eine Generation überspringt und eines meiner Kinder manisch-depressiv wird? Überhaupt müsste sichergestellt sein, dass sie nie einen von uns verlieren und Halbwaisen werden, die sich ihr Leben lang fragen, wie es wohl mit beiden Eltern gewesen wäre.«
»Einen von uns?«
»Dich oder mich.«
»Ich wusste gar nicht, dass ich als Vater infrage komme.«
»Keine Ahnung, warum ich das jetzt sage …«
»Sei nicht so hasenherzig. Das ist doch der Sinn.«
»Was?«
»Liebe, Kinder, Familie – alles andere ist nicht wichtig. Man darf sich das Leben nicht kaputt denken, indem man sich dauernd Sorgen um die Zukunft macht. Es wird schon werden.«
Ich grabe meine Füße tiefer in den Sand, dort, wo er kühler wird. Magnus küsst meinen Oberarm, der trotz einer dicken Schicht Sonnencreme gerade rot wird.
»Aber eine Garantie auf das Glück gibt es nicht. Wenn du die haben willst, muss du dir einen Toaster kaufen.«
Mein Lachen ist so laut, dass es bis auf die Nachbarinseln schallt. Es macht Sinn, was Magnus erzählt. Auch wenn man solche Lebensweisheiten schon oft gehört hat – danach zu leben, vergisst man immer wieder.
»Lass uns nach Thailand und Kambodscha ein Ticket nach Bali buchen und den Surfkurs machen. Im Reiseführer steht, dass die Balinesen an magische Kräfte glauben. Bei denen ist die ganze Natur heilig und die Menschen beten sowohl die Götter in den Bergen als auch die Dämonen im Meer an. Ich sehe da Parallelen zu deiner Geschichte, du nicht?«
»Mein Vater ist doch nicht der Teufel!«
»Es geht um Balance. Du hast eine sehr fröhliche und eine sehr traurige Seite. Wenn du dich nicht um beide Seiten kümmerst, geht das Gleichgewicht flöten. Traurigkeit gehört zum Leben dazu. Es kann nicht immer alles super sein. Jeder muss lernen, das auszuhalten.«
Magnus steht auf und klopft sich den Sand von seinem Hintern. Er streckt die Hand aus und ich gebe ihm meine. Er zieht mich hoch und rennt mit mir an der Hand los.
»Aber jetzt in diesem Moment ist alles super! Los, lass uns deinen Vater besuchen!«
Ich laufe hinter Magnus her, im Wasser lässt er meine Hand los und wir tauchen beide mit dem Kopf unter.
Als mein Vater schrieb »Ich liebe Dich, aber ich kann nicht anders«, waren diese Zeilen nicht nur an meine Mutter, sondern auch an mich gerichtet. Es war eine Aufforderung zu leben. Ich, Helena »Sunny« Schulz, kann anders. Ich tauche so lange unter Wasser, bis ich keine Luft mehr bekomme, dann stoße ich mich vom Sandboden ab und schieße an die Oberfläche. Ich schaue nach oben. Der Himmel ist blau. So blau, dass es fast ins Lila kippt.
Dieses Buch beruht auf meiner Lebensgeschichte, enthält aber auch viele fiktionale Elemente. Es ist nicht die Chronik meiner Familie.
Es stimmt, dass mein Vater manisch-depressiv war und sich das Leben genommen hat, als ich fünf Jahre alt war. Wahr ist auch, dass ein Bekannter aus einem Hochhaus in Berlin gesprungen ist und ich nach seiner Beerdigung anfing, mich mit dem Schicksal meines Vaters auseinanderzusetzen. Im Anschluss ist die erste Version von Hinter dem Blau entstanden.
Meine Freundin Stefanie Luxat, Journalistin und Autorin aus Hamburg, hat damals das Manuskript Korrektur gelesen und gesagt, ich solle die Nebenschauplätze alle streichen und mich
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