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Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Titel: Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa von Heyden
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meine Mutter älter wird. Ihr geht es umgekehrt genauso. Ständig erinnert sie mich daran, wie klein ich als Baby war, so winzig, dass sie mich auf dem Unterarm tragen konnte.
    »Mami, lass das doch«, sage ich und löse ihre Finger von dem Tragegurt. Meine Mutter weiß ja, warum ich komme. Sie schaut mich an und wartet, dass ich etwas sage. Ich setze mein Sonnenscheinlachen auf, aber meine Mundwinkel zittern.
    »Warum interessierst du dich auf einmal für ihn? Dein Vater war dir doch sonst nicht so wichtig«, hatte sie mich am Telefon gefragt, nachdem ich ihr meine Pläne für das Wochenende eröffnet hatte.
    Das stimmt nicht ganz. Ich wollte nie über ihn sprechen, weil ich, wie gesagt, nicht wusste, wie, ohne dass jemand anfängt zu weinen. An jedem Weihnachtsfest wurde geweint, nachdem wir erst das Krippenspiel in der Kirche angeschaut, Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat gegessen und unsere Geschenke ausgepackt hatten. Der Abend endete immer mit Heulerei. Sein Todestag war jedes Mal ganz komisch, der ist ja mitten im Sommer. Wir taten alle so, als wäre nichts, aber jeder wartete darauf, dass einer sagte: »Heute vor so und so vielen Jahren ist es passiert.« Meine Mutter drehte sich dann immer zum Fenster, weil sie nicht wollte, dass wir ihre Tränen sahen. Meine Brüder versuchten, sich zusammenzureißen. Manchmal weinte einer von ihnen mit oder sie weinten alle zusammen. An meinem Geburtstag und den Geburtstagen meiner Geschwister jammerte meine Tante, es sei nicht fair, dass wir schon Halbwaisen seien. Auch am Geburtstag meiner Mutter kam aus irgendeiner Ecke ein Schniefen, weil sie viel zu jung war, um Witwe zu sein. An Ostern sahen wir dabei zu, wie der Vater der Nachbarskinder schweißgebadet die Schokoladeneier in den Sträuchern und Bäumen versteckte, und hatten danach alle keine Lust mehr auf Ostern. Mein Vater hat uns jedes Fest versaut, ohne da zu sein. Das hat mich einfach so wütend gemacht, dass ich nichts mehr von ihm hören wollte. Ich habe ihn dafür richtig gehasst.
    Wenn wir in der Stadt einkaufen waren, ging meine Mutter mit meiner kleinen Schwester Caro und mir in das Münster und kaufte drei Teelichter. Jeder von uns sollte eine Kerze anmachen und auf einem Holzgestell absetzen, das unter der Pieta stand. Die kleine Flamme sollte meinem Vater zeigen, dass wir an ihn dachten. Als meine Mutter das sagte, wollte ich meine Kerze nicht mehr anzünden und hielt sie so fest in der Hand, dass sich das Metallschälchen verbog. Dann schaute ich zu Maria und schämte mich. Sie sah so traurig aus, mit ihrem sterbenden Sohn auf dem Schoß. Ich traute mich nicht, eine nicht angezündete Kerze unter ihr abzustellen. Ich dachte, dann bekomme ich Ärger mit Gott. Seit der Beerdigung von Thorsten dachte ich oft an Maria, wie sie Jesus in den Armen hielt. In der Kirche gilt Selbstmord als Sünde. Für mich war es das auch. Nicht, weil ich glaubte, dass nur Gott über Leben und Tod entscheiden darf. Nein, weil es eine Sünde ist, was man seiner Familie damit antut. Das kann man einfach nicht machen. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass Depressionen eine Krankheit sind und Suizidalität ein Symptom.
    »Mami, verstehst du, ich muss das jetzt alles nachholen«, sage ich zu ihr, als wir durch die Halle des Flughafens zum Parkhaus laufen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich das Thema wieder aufwärme, denn für sie ist es selbst nach über zwanzig Jahren immer noch schwer, das weiß ich. Man denkt, irgendwann muss doch auch mal gut sein, aber Trauer ist nicht wie Liebeskummer. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Das stimmt nicht, da heilt gar nichts. Der Mann, den meine Mutter liebte, hat sie zu einer Witwe gemacht, als sie noch nicht mal vierzig war. Normalerweise sind Witwen so alte, knorrige Omas mit schwarzem Kittel und Kopftuch, meine Mutter aber war und ist eine bildhübsche Frau mit einem Haufen gesunder Kinder im Schlepptau. Es dauerte sechs Wochen, bis sie begriff, dass mein Vater nicht mehr nach Hause kommen würde. Seine Zahnbürste stand im Badezimmer und machte uns Hoffnung, dass wir aufwachen würden und alles nur ein Traum gewesen war.
    Mein Vater war weg und doch überall. Meine Brüder trugen seine Pullover, so lange, bis die Ellenbogen durchgescheuert waren und das Gummi in den Bündchen porös wurde. Auf einem Pulli waren kleine weiße Inseln aufgenäht. Es war ein Souvenir von einer Reise und ein Andenken daran, dass mein Vater auch mal ein glücklicher Mensch gewesen

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