Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Schwester auf dem Boden ab und ruft: »Kind, was hast du denn mit deinen Füßen gemacht?«
Ich sehe an mir herunter. Der Flur sieht aus wie die Bilder, die wir im Kindergarten mit unseren Händen gemacht haben. Nur dass ich nicht mit meinen Händen, sondern mit den Füßen gemalt habe. Die Farbe ist Rot.
»Das war ich nicht, das … das war der Drache!«
Caro sieht mich an und fängt an zu wimmern. Meine Mutter kniet sich zu mir, packt einzeln meine Füße und guckt, ob ich verletzt bin. Sie verfolgt meine Spuren, die vom Flur die Kellertreppe runterführen. Ihre Augen werden größer, dann macht sie einen großen Satz und hechtet die Stufen hinab. Wenige Sekunden später ist sie wieder oben im Flur und rennt beinahe den Telefontisch um. Ihre Hand zuckt. Sie tippt eine Nummer und schreit in den Hörer: »Ein Notfall! Mein Mann hat sich etwas angetan.« Sie nennt den Namen der Straße, in der wir wohnen, legt auf und wählt eine weitere Nummer. »Hilf uns, komm schnell!« Dann schmeißt sie den Hörer hin, schreit irgendwas mit »Gott« und rennt zum Gästeklo neben der Eingangstür. Mit einem Stapel Handtücher auf dem Arm läuft sie an uns vorbei, wieder runter in den Keller.
»Bleibt hier oben, Kinder!«, krächzt sie. Sie hält sich die Hand vor den Mund, um ihre Schreie zu dämpfen, während sie die Treppe runterstolpert.
Was ist ein Notfall? Ich weiß es nicht, aber ich merke, dass etwas nicht stimmt. Meine Mutter ist in Panik und will nicht, dass wir Mädchen es mitbekommen. Wie angewurzelt stehen Caro und ich nebeneinander im Flur. Sie hält sich mit ihren kleinen Fingern an meiner Hand fest, wir stehen in einer Pfütze Pipi. Es ist meins.
Im Keller schimpft meine Mutter ganz doll mit jemandem. »Was hast du getan? Ich war eine Stunde einkaufen, das kann doch nicht wahr sein!«
Die Worte schallen wie ein Echo über den Flur, hinaus auf die Straße, denn die Haustür steht immer noch sperrangelweit offen. Unsere Nachbarin Frau Neumann kommt die Auffahrt hoch, weil sie ihre Tochter sucht, die zum Mittagessen kommen soll. Sandra ist mit den anderen Nachbarskindern auf dem Spielplatz. Sie ist nicht bei uns.
»Sunny, was ist bei euch los?«, fragt Frau Neumann und ihr Blick fällt auf meine blutigen Füße und die Pfütze Pipi, in der ich mit Caro stehe.
Ich kann nicht antworten. Caro guckt mich an.
»Weg mit den Kindern!«, schreit meine Mutter hysterisch aus dem Keller.
Frau Neumann reagiert, ohne zu wissen, was los ist, aber die Stimmlage meiner Mutter scheint ihr Grund genug, uns Mädchen zu packen. Sie nimmt Caro auf den Arm, mich an die Hand und läuft los. Wir laufen die Straße entlang, immer schneller, weg von unserem Zuhause. Der Teer auf der Straße ist warm, irgendwo in der Nachbarschaft dudelt die Musik vom Eiswagen, der auch jeden Nachmittag bei uns vor der Tür hält. Ich hätte so gern eine Kugel Erdbeer im Becher.
»Wo sind deine Brüder?«, japst Frau Neumann.
»Beim Fußi«, antworte ich. So nennen das meine Brüder immer.
Frau Neumann bringt uns auf den Spielplatz, setzt Caro und mich im Sandkasten ab, wo auch Sandra mit ein paar anderen Kindern spielt. Sandra versteht nicht, warum ihre Mutter uns im Schlepptau hat und warum ich im Badeanzug auf den Spielplatz darf.
»Sunny, hier, nimm die Schaufel und ein Eimerchen. Sei so lieb und bau deiner Schwester eine Burg, ja?«, befiehlt mir Frau Neumann. Ich schütte mit beiden Händen Sand in den Eimer, Caro ist ganz nah zu mir gerückt und kaut an der Schaufel. Ich denke das erste Mal, dass ich sie lieb habe und immer auf sie aufpassen muss. Sie ist noch so klein.
In der Ferne hören wir die Sirene eines Krankenwagens. Das Heulen kommt näher und hört dann plötzlich auf. Eine Minute später kommt noch eine Sirene. Dann eine dritte. Ich will nach Hause, ich will baden, mein weißes Kleid mit Spaghettiträgern anziehen und das Würstchen essen, das Mami mir versprochen hat.
»Ist das die Feuerwehr? Ne, die Polizei!« Frau Neumann redet mit sich selbst. Sie bückt sich zu mir runter, legt ihre Hand auf meinen Rücken und fragt vorsichtig: »Weißt du, was bei euch passiert ist?« Sie sieht meine Füße an und versucht, die rote Farbe mit dem Sand abzuwaschen.
»Ist das Blut an deinen Füßen? Hast du dir wehgetan?«
»Ne, aber der Drache hat sich wehgetan«, antworte ich.
»Welcher Drache, Sunny?«
»Der Drache bei uns im Keller!«
Frau Neumann fängt an zu weinen.
Von überall her kommen jetzt mehr Nachbarn auf den Spielplatz
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