Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
die Toilette gehen, aber meine Mutter hat die Haustür zugemacht, als sie mit Caro zum Einkaufen in den Nachbarort gefahren ist. Wir wollen heute Abend Koteletts und Würstchen grillen – so haben es meine Eltern beim Frühstücken beschlossen, eben weil heute der schönste Tag des Jahres ist.
Meine Brüder sind auf dem Bolzplatz ein Dorf weiter. Bis auf meinen Vater ist keiner da, der mir aufmachen kann.
Von außen steckt kein Schlüssel in der Tür, so wie es sonst eigentlich immer der Fall ist, wenn wir draußen spielen und meine Eltern einen Mittagsschlaf machen. Sie sind immer so müde von der Arbeit.
Ich komme mit meinen Fingern an die Klingel ran, aber schaffe es nur, einmal kurz draufzutippen. Im Haus passiert nichts. Mein Vater kommt nicht, um mir die Tür zu öffnen. Wieder klingle ich. Wieder öffnet mir niemand. Das Haus scheint verlassen.
Ich laufe durch den Garten, um durch die hintere Kellertür ins Haus zu gelangen. Während ich an der Hauswand entlanglaufe, höre ich aus einem der Kellerfenster seltsame Geräusche, die ich noch nie zuvor gehört habe. Es ist ein Stöhnen, Pfeifen und Ächzen. Ich weiß nicht, ob es ein Mensch oder ein Tier ist.
Erst macht es »Pfff«, dann höre ich ein langes »Aaahhh«. Es klingt wie ein Drache. Seit uns Mami Die unendliche Geschichte vorgelesen hat, wünsche ich mir so einen Glücksdrachen wie Fuchur. Das habe ich dem Weihnachtsmann schon geschrieben, ich schreibe gern Wunschzettel. Ich weiß, dass heute nicht Weihnachten ist, aber mein Traum scheint wahr geworden zu sein – der Drache wartet im Keller auf mich. Ich gehe auf die Knie, stecke meinen Mund in den Fensterspalt und quieke:
»Hallo, Herr Drache!«
Es ist kurz still, dann säuselt der Drache:
»Ist das schön!«
So schnell wie ich kann, laufe ich zur Treppe, die runter zum Keller führt, und erschrecke mich fürchterlich. An den Wänden suchen Motten Schutz vor der Sommerhitze. Auf mich wirken die braunen Falter wie Ungeheuer. Meine Mutter behauptet, dass die Viecher unsere Pullover aufessen wollen und deshalb in jedem Schrank ein Sträußchen getrockneter Lavendel hängen muss. Ich habe Angst um meinen neuen Badeanzug.
Ich sehe kaum die Hand vor Augen, aber ich will mein Geschenk, den Drachen, sehen. An den Lichtschalter komme ich nicht ran, also tapse ich im Dunkeln mit ausgestreckten Händen vorwärts.
Ich kenne jeden Winkel hier unten, denn bei schlechtem Wetter spielen meine Geschwister und ich im Hobbykeller. Erst kommt die Hobelbank meines Vaters, daneben dann ein hohes Regal mit Werkzeug, Schrauben und Farbtöpfen, also alles, was wir nicht anfassen dürfen. Vorn an der Tür zum Flur steht die Waschmaschine, die immer läuft. Heute nicht. Meine Mutter hatte noch keine Zeit, sie anzumachen.
Es ist ruhig hier unten, bis auf ein leises Röcheln, das aus der hinteren Ecke des Raumes kommt, höre ich nichts. Mein Drache spielt ein Spiel, er versteckt sich.
Der Betonboden ist kühl und gleichzeitig klebrig. Meine nackten Fußsohlen bleiben bei jedem Schritt am Boden pappen, aber meine Neugier zieht mich weiter. Ich will zum Drachen. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und ich kann Umrisse erkennen. Der Drache liegt jetzt vor mir. Er ist nicht groß und flauschig-weiß, so wie Fuchur. Er hat zwei lange Beine und rührt sich nicht. Ich versuche, mehr zu erkennen, und will wissen, wie er sich anfühlt. Ich gehe in die Hocke und strecke meine Hand aus, um ihn zu berühren. Der Drache hat kein Fell. Er ist irgendwie glitschig. In der Dunkelheit blitzt das kleine Messer, das mein Vater immer in einem schwarzen Koffer mit zur Arbeit nimmt.
»Hallo, Herr Drache. Sind Sie mein Geschenk?«, frage ich ganz lieb und streichle ihn. Der Drache reagiert nicht, schnauft nur. Ich stehe da und überlege, was ich ihn fragen soll. Die Kälte zieht mir bis in die Knie hoch und ich muss noch dringender Pipi.
Ich bekomme Angst, mein Herz beginnt zu pochen. Mit einem Kreischen rase ich aus dem Keller, hoch ins Treppenhaus, wo es heller ist. Ich stolpere und kraxele auf allen vieren weiter die weiße Marmortreppe hinauf. Dabei stoße ich mir zweimal das Knie an den Stufen, aber ich habe solche Angst, dass ich den Schmerz nicht bemerke. Oben schließt meine Mutter gerade die Haustür von außen auf und steht mir im Flur gegenüber. Ich renne ihr entgegen und will auf ihren Arm springen, wo auch Caro sitzt. Als sie mich sieht, lässt sie die durchsichtige Plastiktüte mit dem Fleisch fallen, setzt meine
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