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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Stimme wäre ganz verschwunden. Es war kaum mehr von ihr übrig geblieben als ein paar Flügelchen, die gegen meine Stimmbänder stießen.
    »Ich hätte dich heute Nacht aus meinem Bett schubsen sollen«, sagte er.
    »Ja«, flüsterte ich. »Das hättest du tun sollen.«
    Ich machte die Augen wieder zu, denn in meinem Kopf war es vielleicht nicht ruhig, aber es war sicher.

CALISTA
    Von einem auf den anderen Moment ließ Bossie mich los. Wir drehten gleichzeitig die Köpfe zum Tor der ALTEISEN KG .
    Es donnerte in der Sandstraße.
    Petra blieb stehen, die Hände in die Hüfte gestützt, und rief über ihre Schulter nach Priit.
    Wir verstanden ihr Alteisisch: Dass jemand an die Metalltür geschlagen hatte.
    Priit schob den Kopf um die Ecke der Lagerhaustür, verschwand wieder in der Dunkelheit und kam eine Sekunde später mit dem Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger heraus. Er beeilte sich nicht. Bevor er den Schlüssel im Schloss drehte und das Tor aufzog, stellte er einen umgefallenen Ofen wieder hin und hob etwas Kleines auf, eine Schraube oder eine Mutter.
    Bossie sog laut Luft ein.
    Auf dem Bürgersteig stand das Mädchen mit den gelben Haaren. Sie stieß mit einer Hand gegen das aufklappende Tor. Das Tor knallte gegen den Ofen, der kippte und schlug gegen einen anderen Ofen, woraufhin eine Metallplatte zu schwingen und zu singen anfing.
    Das Mädchen hielt sich die Ohren zu und sah aus, als hätte der Lärm sie erschreckt. Aber sobald sich das Gedonner zwischen den Mauern bis nach oben gearbeitet hatte und in der Luft über uns verschwunden war, ging sie ohne zu zögern an Priit vorbei auf den Hof.
    Sie ließ den Blick über die Tretroller, die Waschmaschinentrommeln, die Dreiräder, den Lieferwagen und über Bossie und mich und den Berg Fahrräder wandern. Sie versuchte so zu tun, als hätte sie uns nicht gesehen, aber ihr Blick flitzte eine Sekunde zu uns zurück.
    Ihre Schuhe hatte sie selbst gemacht. Korksohlen mit Bändern, die sie sich ein paarmal um die Knöchel gewickelt hatte. Über den Bändern gingen ihre Beine immer weiter und verschwanden unter einem kurzen gelben Rock, der wohl lieber eine Hose gewesen wäre. Auf den Stoff waren ein Hosenlatz und eine Tasche genäht.
    Sie drehte sich zu Priit um und sagte: »Ich bin Calista.«
    Priit runzelte die Augenbrauen und schaute über den Kopf des Mädchens hinweg zu Petra.
    Bossie sprang auf. Er sagte: »Er versteht dich nicht.«
    Das Mädchen schaute hoch. Sie sagte: »Mein Name ist mein Name.«
    »Das stimmt. Aber dein Name hört sich nicht an wie ein Name, sondern wie ein ganzer Satz. Du darfst Priit nicht durcheinanderbringen.«
    Bossie setzte sich auf den Dachrand. Er sagte zu Priit und Petra, dass dieses Mädchen Calista heiße. Er sprach jedes Wort vom ersten bis zum letzten Buchstaben aus. Zugleich versuchte er mit den Händen zu erklären, was er sagte.
    »Sie – will – etwas – fragen.«
    Priit und Petra runzelten die Stirn.
    Ich schämte mich.
    »Warte«, sagte Bossie. Er rollte auf den Bauch und ließ seine Beine hinunterhängen. Seine Füße tasteten nach einem Halt. Seine Arme zitterten vor Anstrengung, sein Gesicht war verkrampft, er suchte mit den Fußspitzen nach einer Stütze. Auf dem Waschmaschinenberg konnte er stehen. Von dort sprang er auf den Stapel Regenrinnen – die waren aus Zink und sanken zusammen. Es gelang ihm gerade noch, sich aufrecht zu halten, indem er die Arme ausbreitete und auf die Wanne mit Auspufftöpfen sprang. Von dort aus hüpfte er auf den Boden.
    »Sag mal«, sagte er, während er sich den nicht vorhandenen Staub aus dem Hemd klopfte.
    Ich bekam den Mund nicht zu.
    Calista stand auf einem langen Bein. Sie keuchte vor Hitze und nickte mit dem Kinn in Priits Richtung.
    »Was soll ich sagen?«, sagte sie.
    »Benutze dein Gehirn«, sagte Bossie.
    Offenbar hatte noch nie jemand zu Calista gesagt, sie solle ihr Gehirn benutzen.
    »Deute einfach auf das, was du willst.«
    Calista kratzte sich am Arm. Sie sagte, während sie tat, als hielte sie eine unsichtbare Schuhschachtel hoch, sie brauche etwas in dieser Größe.
    »Aber mit Rädern.«
    »Dann frag es eben. Etwas von der Größe. Mit Rädern.«
    »Aber wie?«
    »Indem du es zeigst, natürlich.« Bossie sprach mit sanfter, freundlicher Stimme. »Schau dich um, ob du etwas siehst, was geeignet ist.« Er formte mit den Händen eine Brille und fragte Priit, ob Calista sich umschauen dürfe.
    Das tat sie schon längst. Sie sah alles, was sich über ihrer Nase

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