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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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erst den Boden erzittern und arbeitete sich dann durch die Wände nach oben. Auf dem Dach war es dann nur noch ein Summen.
    Über uns zog ein Flugzeug einen Kreideschwanz hinter sich her.
    »Ich habe gesagt: ich warte«, sagte Bossie.
    »Ich habe gesagt: keine Ahnung, worauf«, sagte ich.
    Hinter der Mauer um die ALTEISEN KG erschien eine Hummel. Sie war im Sinkflug, querte schräg den Bürgersteig und überflog die Straße. Ungefähr auf halber Strecke wirbelte ein Windstoß Blätter und Papierfetzen über die Milchstraße und packte ganz kurz auch die Hummel.
    Auf dem Bürgersteig der anderen Straßenseite liefen ein Mann und eine Frau. Er trug eine Mütze, sie einen Hut gegen die Sonne. Ihre Gedanken waren frisch. Der Himmel über ihnen war blau und weit.
    Bossie tippte mit dem Mittelfinger gegen meine Schulter.
    Ich zog meinen Oberkörper von ihm weg und streckte abwehrend die Hände aus.
    »Junge«, sagte ich.
    Bossie blieb mit seinem Gesicht dicht an meinem. Sein Atem roch nach Milch. »Du lügst nicht gut«, sagte er.
    »Ich lüge nicht.«
    »Papa ist böse auf mich und lieb zu dir, das fällt doch auf.«
    »Das bildest du dir nur ein. Er arbeitet an einem Artikel. Dann ist er immer ein bisschen seltsam.«
    Bossie zog die Mundwinkel nach innen und schüttelte den Kopf. »Zu mir war er kurz angebunden, und dich hat er geknuffelt.«
    »Geknuffelt«, sagte ich. »Du siehst Gespenster. Bist du eifersüchtig?«
    »Das habe ich nicht gehört.«
    »Rede ich so leise?«, sagte ich.
    Die Tür der Lagerhalle schwang auf. Petra kam heraus. Mit einer rostigen Blechschere in der Hand ging sie zum Lieferwagen. Auf der Ladefläche lag ein Berg aus Auspuffen und Kinderwagengestellen und Dreirädern ohne Räder. Im Zickzack waren blaue Gurte darüber gespannt, um den Stapel zusammenzuhalten.
    Petra betrachtete die Sachen eine Weile und stöhnte, als hielte sie das Zeug für einen mageren Bären, den Priit für sie geschossen hatte. Dann streifte sie die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Sie warf die Auspuffe zu den Auspuffen, die Kinderwagengestelle zu den Kinderwagengestellen, die Dreiräder zu den Dreirädern. Wenn ein Metallteil auf ein anderes knallte, gab es ein kreischendes Geräusch.
    »Du wirst verschont«, sagte Bossie zu mir.
    Es dauerte einen Moment, bis ich wusste, was er meinte.
    »Das ist nicht wahr«, sagte ich.
    Ein Marienkäferchen ließ sich auf meinem Knie nieder. Ich hielt ihm einen Finger hin, um draufzuklettern, und hob den Arm, um ihm den Himmel zu zeigen. Meiner Meinung nach schnappte das Tierchen nach Luft, bevor es wegflog.
    Bossie stand auf. Mit den Händen auf dem Rücken schaute er über die ALTEISEN KG hinweg.
    »Ich bin älter«, sagte er. »Ich verstehe einige Dinge besser.«
    »Ach ja?«, sagte ich.
    Als Bossie sich nach vorn bog und mir die Hand wie einen warmen Lappen in den Nacken legte, wusste ich, dass es kein Entkommen mehr gab, es war zu spät. Mit einer geschickten Fußbewegung trat er mir die Beine weg. Von einem Moment auf den anderen lag ich der Länge nach auf dem Dach. Er packte meine Handgelenke und bog sie über meinen Kopf. Er kniete sich auf meine Oberarme. Er knetete meine Muskeln.
    »Ja«, sagte er. »Ja.«
    Ich biss die Zähne zusammen.
    Unter den Sträuchern entlang der Milchstraße raschelten Vögel. Ab und zu war das Klappern von Metall auf Metall zu hören, der Lärm war erst ganz nah und erklang dann keine Sekunde später als Echo hinter den Bäumen in der Sandstraße.
    Mit geschlossenen Augen bekam ich Superkräfte: Ich fegte Bossie mit einer entschlossenen Bewegung von mir weg. Wie in einem Comic flog er durch die Luft, landete auf der anderen Seite des Dachs flach auf dem Rücken und rutschte ein paar Meter weiter, fast bis zum Rand. Er lebte noch, aber er hatte Glück gehabt. Ich sprang hoch, als wäre ich aus Gummi, und rief: »Erstick doch an deinem Scheißzeug«, und ließ ihn auf dem Dach liegen. In gerader Linie lief ich die Milchstraße entlang und winkte mit meinem Geld, nein, es schneite plötzlich Geldscheine um mich herum, und ich sang ein Lied über das Eis, das ich mir kaufen würde: »Stracciatellalalala.«
    In Wirklichkeit bekam ich fast keine Luft. Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken und konnte mich nach keiner Seite rühren. Bossie quetschte mein Kinn. Er musterte mich von oben, wie man einen Fleck in einem Teppich mustert. Etwas, was man bedauert, weil man es nicht so leicht wieder wegbekam.
    Ich piepste. Es fehlte nicht viel, und meine

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