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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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bestimmt waren, vor die Nase. Er griff nach der Milchkanne und schenkte den Becher voll.
    »Trink«, sagte er. »Schmier dir ein Butterbrot.«
    Ich schob meinen Stuhl näher, rührte den Teller aber nicht an.
    Ich wollte, dass Papa weiterlas.
    Das tat er aber nicht. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und machte aus seinen Händen ein Zelt, über das hinweg er mich weiter anschaute. Er las in meinem Gesicht.
    »Ich habe gedacht, du seist mit ihr verabredet«, sagte er.
    »War ich auch, war ich auch«, sagte ich.
    »Und sie war nicht da, war nicht da.«
    Auf meinen Lippen lag die Geschichte der vergangenen Tage. Ich hätte gern von Nancy und Jeckyll und dem Spiel erzählt, das wir spielten: wer als Erster sterben würde. Ich wollte fragen, ob man für solche Spiele bestraft werden konnte, denn: Geesjes Tante war gestorben.
    Ich wollte von dem Piloten erzählen, der auf der Stelle tot war, und von dem Passagier, der überlebte, weil er Kopfschmerzen bekommen hatte. Ich wollte den Krankenhausgang beschreiben, mit den sehr alten Menschen, die nicht viel Licht ertrugen.
    Aber ich schwieg. Bei Papa wurde ich immer sehr schnell still.
    Ich sammelte ganz allein meine Erinnerungen an die Ereignisse, ohne ihn. Wenn es so weiterging, überlegte ich, würde ich ein Astronaut werden, der sich eines Tages von ihm lösen und im Weltall verschwinden würde.
    Nichts, was ich erzählen wollte, war wichtig genug. War das Baby, das mit zwei Herzen geboren wurde, wichtiger als die Frau, die sich den eigenen Finger abgebissen hatte, als der Seiltänzer, als die Kuh in Japan, als Nancy und Jeckyll, als Geesje, die die ganze Nacht geheult hatte?
    Würde Papa mir nach zwei Worten schon den Mund stopfen? Würde er sagen: »Ja, und dann?«
    Ich setzte mich gerade hin.
    »Papa«, sagte ich. »Ich werde dir etwas erzählen.«
    Papa zog die Augenbrauen hoch.
    »Du musst mich aussprechen lassen«, sagte ich.
    Er hob zwei Finger hoch. »Ich schwöre es.«
    Ich sagte, dass Geesje böse auf uns war. Oder nein: Geesje war böse auf uns gewesen. Ich erzählte, dass sie die ganze Nacht im Bett ihrer Mutter und ihres Vaters geweint hatte und dass ich erst dachte, sie habe unseretwegen geweint, aber das stimmte nicht, sie hatte wegen ihrer Tante geweint. Ich war böse auf Bossie, weil er dachte, wir könnten Geesje ersetzen. Wir hatten ein Mädchen gesehen, das wir nie zuvor gesehen hatten, ein Mädchen, das Geesje nicht ersetzen konnte. Ich sagte: »Alles läuft schief. Gestern ist Geesjes Tante gestorben. Ich soll dir von Geesjes Mutter ausrichten, dass die Beerdigung am Samstag ist.«
    Papa sank gegen seine Stuhllehne und schaute mich an.
    Es war so still in der Küche, dass ich das Ticken der Uhr über der Tür hören konnte, und dabei tickte sie fast nicht.
    »Oskar«, sagte er und beugte sich vor, um seine große Hand auf meine zu legen. »Warte mal.«
    Er stand auf. Er fummelte mit der Zeitung herum und stopfte sie unter den Arm. Er nahm den Bleistift und die Einkaufsliste, seine Brille, seinen Teller, stapelte den Schmelzkäse und den Brotkorb mit einem Joghurtbecher darauf, packte auch noch die Butterdose und das Schwarzbrot dazu und brachte alles zur Anrichte.
    Dort räumte er den Stapel wieder auseinander.
    Ich hielt mich an meinem Becher Milch fest. Ich schaute über den Tisch zu Papas gebeugtem Rücken hinüber.
    Ich hoffte, er würde nicht zur Tagesordnung übergehen, wie er es selbst nannte. Wenn er zur Tagesordnung überging, verwandelte er sich in einen Schriftsteller, und dann tat er, als wäre er zwar noch da, aber seine Augen waren schon irgendwo anders: Er schaute in sich hinein.
    Ich wollte, dass er sich zu mir an den Tisch setzte und irgendetwas auf seine Papa-Art zu mir sagte.
    Ich wartete, wie er gesagt hatte, aber sein gebogener Rücken blieb ein gebogener Rücken. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Anrichte. Sein Kopf hing nach unten.
    Ich stellte mich neben ihn, um ihn an mich zu erinnern. Weil er nicht reagierte, umarmte ich seinen Arm.
    Er zog mich sanft an sich und kniff mich ein bisschen. Er sagte, er könne es meinen Schultern anfühlen, dass ich mir viele Sorgen machte.
    »Du musst nicht an der Stelle von jemand anderem traurig sein«, sagte er. »Das ist lieb, aber es ist auch sehr schwer.«
    Papa schwieg einen Moment. Er musste selbst darüber nachdenken, was er gesagt hatte.
    Ich hörte ihn ein paarmal tief Luft holen.
    Dann drehte er sich zu mir um und legte seine Hände auf meine Oberarme, als würde

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