Hinter der Milchstraße - Roman
Vater, der früher gern über den Zaun hinweg mit dem Nachbarn ein Schwätzchen gehalten hatte, wusste nicht, an welchen Zaun seines großen Gartens er sich stellen sollte, um einen Nachbarn zu finden, und die Kinder langweilten sich.
Fünf Jahre nachdem sie in der Lotterie gewonnen hatten, kamen sie in die Zeitung. Die Mutter sagte: »Unser Unglück hat mit der neuen Pfundnote begonnen, mit der wir das Los gekauft haben.«
Ich tastete nach dem knisternden Geldschein in meiner Tasche. Er war noch dort, und ich ließ ihn auch dort. Ich dachte: Nicht jede kleine Neuigkeit ist unwichtig. Das durfte ich nicht vergessen, ich musste es Papa sagen, wenn wir irgendwann einmal wieder zusammen am Tisch sitzen würden. Manche Neuigkeiten sind wichtiger, als man ihnen anmerkt.
DER LIEFERWAGEN
Als Priit den Lieferwagen hinausfuhr, sprang ich vom Randstein hoch, auf dem ich eine ganze Weile gesessen und gegrübelt hatte. Er wollte zum Tor laufen, um es zu schließen, aber Petra war schneller. Mit der Klinke in der Hand blieb er stehen. Er sagte etwas, was mit »du bist« begann und mit ein paar anderen Worten endete. Er schaute mich fragend an.
Ich dachte, er wolle wissen, was ich hier allein tat. Um zu zeigen, dass ich Streit hatte, machte ich ein böses Gesicht und hob die geballten Hände.
Petra kam auf uns zu. Sie suchte Priits Hand, um ihm den Schlüsselbund zu geben.
Einen Moment lang sah es aus, als würden sie sich an den Händen halten, und das erschreckte mich. Durch diese Gebärde wurde mir klar, dass ich allein war. Ich hatte mit fast jedem, den ich kannte, Streit bekommen. Ich wusste nicht, wie man das »mit fast jedem« darstellte. Ich könnte einen schlampigen Kreis andeuten, der die Welt sein sollte, aber dann war es seltsam hinzuzufügen: »Aber nicht mit euch und nicht mit Papa.«
Priit machte mein Gesicht nach und rasselte mit den Schlüsseln.
Ich verstand, dass er mich fragte, ob ich mit ihnen fahren wollte. Irgendwohin.
Es war mir egal, wohin. Ich hatte viel zu lange über zu Hause und unser Clubhaus und die umgebaute Scheune in Italien nachgedacht, wo Mama war, um Ordnung in ihr Herz und ihren Kopf zu bekommen.
Um zu zeigen, dass ich mich freute, rieb ich mir die Hände.
Während ich einstieg, sagte ich, dass ich noch nie in einem Lieferwagen gesessen hatte, und als ich saß, überwältigte mich dieses Gefühl und die Hitze und die Aussicht.
»Komm«, sagte Petra und gab mir einen Schubs, denn sie musste auch noch dazu.
Priit drehte den Schlüssel um und fuhr erschrocken hoch, weil unter der Motorhaube ein keuchendes, fast wieherndes Geräusch zu hören war.
»Motor ist müde«, sagte er. Er probierte es noch ein paarmal und lauschte aufmerksam, ob außer dem Husten nicht auch ein gesundes Geräusch zu hören war. Zum Spaß machte er den Motor nach.
Petra lachte, ich lachte auch.
Ich fand, dass ich sehr laut lachte.
Es gelang Priit nicht noch einmal, den Motor so witzig spucken zu lassen. Er ging einfach an, maulend und röchelnd wie immer.
Alle drei starrten wir einen Augenblick still durch die Frontscheibe. Es war wie nach dem Platzen eines Luftballons. Etwas Fröhliches, das es gerade noch gegeben hatte, gab es plötzlich nicht mehr.
Der Lieferwagen bog mit einem seufzenden Geräusch in die Sandstraße ein.
Erst glitten noch Bäume und Gärten vorbei, danach begann der Teil der Sandstraße, in dem nur wenige Menschen wohnten.
Da gab es große Lagerhäuser, die nach Bossies Meinung die sonderbarsten im ganzen Land waren. Dort wurden Dinge gelagert, die man nirgendwo sonst fand, zum Beispiel Reißnägel aus Plastik, Säcke mit Styropor und schwimmende Fußböden. Es gab einen großen Schuppen, in dem Holzkisten mit fingerlangen Plastikfläschchen gestapelt wurden, Hunderte fingerlanger Plastikfläschchen pro Kiste. Getränkefabriken bliesen sie mit Luft auf, sodass sie zu Flaschen anschwollen, in die zwei Liter Limonade passten.
Was ich von Bossie über die großen Lagerhallen erfahren hatte, wollte ich Priit und Petra weitersagen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ohne Wörter erklären könnte, dass eine große Limonadenflasche am Anfang nicht länger war als ein Finger, und wie sollte ich schwimmende Fußböden und Styropor mit den Händen darstellen?
»Wow«, sagte ich zu Priit. Ich riss die Augen weit auf, um zu zeigen, wie schrecklich groß ich den Lagerplatz fand. Während ich das tat, begriff ich, dass ich etwas erzählte, was ich eigentlich nicht hatte erzählen wollen.
Das
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