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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ja!«, rief sie.
    Hinter meinem Rücken waren Petra und Priit in das Metallnest geklettert.
    »Ich dachte schon, ihr hättet nur euer Personal geschickt. Ich dachte: Muss der große Oskar das ganze Zeug allein auf die Ladefläche schleppen?«
    Ich wurde fast nie rot. Jetzt wurde ich rot bis in die Haarwurzeln. Spatzen zwitscherten um mich herum, sie lachten mich ein bisschen aus.
    »Hast du Durst?«, sagte die Frau zu mir. Sie wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. »Willst du Granita?«
    »Ich weiß nicht, was Granita ist«, sagte ich.
    »Dort«, sagte sie, streckte die Hand aus und deutete hinüber zu dem Haus. »Lauf in das dunkle Loch hinein. Das ist meine Küchentür. Sag zu Phyllis, dass du Durst hast. Sag ihr, dass sie Eis auf deine dicke Augenbraue legen soll, Jungejunge, was für eine Beule, was für ein brutaler Kerl hat dich denn geschlagen?«
    Ich war noch nie einfach in ein Haus hineingelaufen, um jemandem zu sagen, dass ich Durst hatte. Und eine Beule.
    »Geh nur, geh nur«, sagte die Frau. Sie scheuchte mich mit der Hand weg. Zu ihrem Hund sagte sie: »Küche!«
    Der Hund drehte sich langsam um, wedelte vorsichtig, als ich ihn einholte, und lief dann neben mir her. Er schaute ab und zu zur Seite, als würde er seine Beine mit meinen vergleichen.
    »Hallo, Kerlchen«, sagte ich zu ihm. Ich schaute ihn nicht wirklich an, ich verglich ihn nur mit Jeckyll.
    Er lief in die Küche hinein und kam zurück, als machte er sich Sorgen, wo ich blieb.
    Auf der Türschwelle wich ich zurück. In der Luft hing ein säuerlicher Geruch nach Abwasch und gebackenem Fisch und Suppe, die bei geschlossenen Fenstern und Türen gekocht worden war. Mein Magen rebellierte. Die Luft war so dick und warm, dass man sich an sie lehnen konnte. Ich versuchte, nicht durch die Nase zu atmen.
    Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Ich sah mehr Schränke als Küche. Die Schränke waren rot und schwarz. Solches Holz hatte ich noch nie gesehen. In der Mitte des Raums stand ein Tisch mit zwei Stühlen, und auch deren Holz war rot und schwarz. Es sah aus, als würde es brennen.
    »Hallo?«, sagte ich in die Luft.
    Irgendwo im Raum brummte und tickte ein Ventilator.
    »Phyllis?«, sagte ich und machte einen Schritt nach vorn.

PHYLLIS
    In einer Ecke hinter dem Schrank brannte eine Lampe über dem Kopf eines Mädchens. Erst dachte ich, sie würde mir zulächeln, doch nach einer Weile begriff ich, dass ich eine Reihe von Nägeln zwischen ihren Lippen anschaute.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Hm«, machte das Mädchen. Sie hielt einen Hammer in der einen Hand und ein Brettchen in der anderen. Der Hund lief in die Küche hinein und verschwand zwischen den Stuhlbeinen. An der anderen Tischseite wurde er mit ein paar sanften Schlägen mit dem Brettchen gegen sein Hinterteil begrüßt.
    Ich sagte: »Ich soll dir sagen, dass ich Durst habe.«
    Phyllis spuckte die Nägel aus. »Hat meine Mutter gesagt, dass wir Granita haben?«
    »Ja«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, was Granita ist.«
    »Manche halten es für Essen mit einem Strohhalm.« Sie drehte sich um, ohne vom Stuhl aufzustehen.
    Einige Sekunden lang stockte mir der Atem. Phyllis’ Stuhl summte und fuhr vorwärts. An den Rahmen des Rollstuhls waren Bänder und fröhliche Schleifen gebunden. Die Rückenlehne war voller Aufkleber, und wo immer ein bisschen Platz war, hingen Plastikblumen oder Püppchen oder kleine Teddybären, die Herzchen festhielten.
    In dem Moment, als Licht aus der Tür auf sie fiel, sah ich Phyllis’ Beine. Vielleicht hatten mich meine Augen getäuscht. Ich hatte nicht gewusst, dass es so kurze Beine überhaupt gab.
    »Ich weiß«, sagte Phyllis. »Es ist dunkel, mit den geschlossenen Rollläden.« Sie sagte etwas über dünnes Glas und dass wir sonst Tomaten in einem Treibhaus wären. Dass deshalb der Ventilator auf dem Schrank stand. »Dann bewegt sich die Luft ein bisschen. Aber heute gibt es nichts, was wirklich hilft.«
    »Deine Mutter hat gesagt, ich soll dich um Eis bitten – für meine Beule.« Meine Worte liefen nicht im gleichen Rhythmus wie meine Gedanken, ich stolperte über die einfachsten Wörter.
    »Beule?«, sagte Phyllis. »Ach ja, ich seh’s. Wogegen bist du gerannt?«
    »Gegen eine Faust«, sagte ich.
    Der leere Becher, den sie aus dem Schrank holte, blieb in der Luft hängen. Ihrem Gesicht sah ich an, dass sie sich vorzustellen versuchte, wie ich gegen irgendeine Faust gelaufen war. Sie blinzelte.
    »Es tut nicht weh«, sagte

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