Hinter Jedem Konflikt Steckt Ein Traum, Der Sich Entfalten Will
Betriebsleiterinnen und Bäuerinnen entdeckte Annegrete W. bei dieser Übung die Energie eines Drachens in sich. Annegrete erzählte von ihrer Schwiegermutter, die ein »richtiger Hausdrachen« sei, nachts mit einem Besenstiel an die Decke klopfe und die junge Familie terrorisiere. Ihr Mann, der früh aufstehen musste, hatte sich schon in einen anderen Gebäudeteil verzogen, wo er das Klopfen seiner Mutter nicht mehr hören konnte. Die Schwiegertochter, die mit ihren Kindern den Lärm ertragen musste, wusste sich keinen Rat mehr. Bevor wir uns an die Arbeit machten, scherzten wir darüber, dass es in diesem Bauernhaus vielleicht immer einen Hausdrachen geben müsse, es sei eben nur die Frage, wer die Rolle am besten spielen kann. Annegrete ging in die Rolle der Schwiegermutter und versuchte zu entdecken, was der Kern oder die Essenz dieses Verhaltens jenseits von Polarisierung und Abneigung sein könne, und sie fand folgende Sätze als bedeutsam heraus: »Ich habe hier das Sagen, alle sollen mich hören, was ich zu sagen habe, ist wichtig...« Annegrete, eine große und sehr starke Frau, ließ sich darauf ein, mehr und mehr selbst in diese Rolle hineinzugehen. Sie trat mit beiden Beinen schwer auf den Boden, verursachte eine Menge Lärm dabei und sprach die anderen Teilnehmerinnen mit kräftiger Stimme an: »Ich habe dir etwas zu sagen. Ich will, dass du hörst, was ich entschieden habe...« Es war beeindruckend. Keine kam an ihren Bemerkungen vorbei. Annegrete fühlte sich sehr wohl in der Rolle und war bereit, ihre Schwiegermutter zu übertrumpfen.
Zwei Jahre später rief ich sie an, um zu fragen, wie es ihr nach unserem Training mit dem Drachen ergangen sei: »Mit dem Mut, den Drachen in mir zu zeigen, habe ich gelernt, für mich selbst einzustehen«, antwortete sie. »Ich kann heute viel besser unliebsame Entscheidungen treffen und bin nicht mehr von der Zustimmung der anderen abhängig. Ich kann auch mal egoistisch sein und bin viel selbstbewusster.« Mit der Schwiegermutter
sei es kurz nach unserem Seminar zur Aussprache und Aussöhnung gekommen, mittlerweile lebe sie allerdings nicht mehr. Und dann erzählte sie, wie die Schwiegermutter noch in einer anderen Sache zur Verbündeten werden konnte: »Ich brauchte meine Schwiegermutter und den Kampf mit ihr, um meine Tochter, die sehr nach ihrer Großmutter kommt, zu verstehen.« Eine wunderbare Geschichte, die zeigt, wie sich die Wirks und Passierchen in unserer Umgebung in Bewegung setzen, wenn wir in uns eine essentielle Kraft entdecken und sie endlich ausdrücken dürfen.
Herzstücke: Geschichten vom Scheitern, gemeinsamen Lernen und Gelingen
Dieses Kapitel ist ein Herzstück des Buches und ich will deswegen darin nicht nur von Erfolgen, sondern auch vom Scheitern, von notwendigen Fehlern und vom gemeinsamen Lernen erzählen. Denn genau dies tun wir mit unseren Verbündeten und unseren Streitpartnern.
Wir haben Angst vor unserer Unsicherheit und unseren Fehlern, dabei lernen wir gerade durch sie.
Als ich vor mehreren Jahren anfing, mit Konflikten prozessorientiert zu arbeiten, hatte ich selbst auch Angst. Die Gefühle und Meinungen der Beteiligten sollten nicht gedämpft oder durch Regeln und Ultimaten erpresst werden, sondern einen Raum bekommen, um sich offen auszudrücken. Meine Angst mischte sich mit der Angst der Beteiligten. Manche Prozesse blieben stecken, weil mir plötzlich vor lauter Schreck nichts mehr einfiel und eine schnelle Befriedung der Streithähne leichter erschien, als dem natürlichen Fluss und den lauten Gefühlen zu folgen. Am Anfang machte ich mir noch Vorwürfe und wünschte mir, besser zu sein. Vor allem dachte ich, dass ich kühl bleiben müsste, während die anderen sich gegenseitig angreifen. Das ging jedoch nicht und es geht immer noch nicht und daran muss etwas Gutes sein. Ich bin alles andere als distanziert in einem Konflikt, auch wenn es nicht mein eigener ist. Meine größten Schreckmomente in der Konfliktarbeit sind die Stellen,
an denen ich selbst am meisten lernen konnte. So werden die Menschen, mit denen ich arbeite, zu meinen Verbündeten, mit denen auch ich mich manchmal auseinandersetzen muss, um meinen Weg zu finden.
Fallbeispiel
Ich möchte von einem Konflikt erzählen, den ich in jener prozessorientierten Anfangszeit in einem Kindergarten zu schlichten versuchte. Eine junge ausgebildete Erzieherin kämpfte mit einer älteren und erfahrenen Erziehungskraft, die aber keine Erzieherinnenausbildung hatte. Die
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