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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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ihre Deutung. Wasserspritzer an den Füßlingen ihrer Strumpfhose, die Zehen
     nach innen gekrümmt wegen der Kälte, sie heizte nicht oder nur im harten Winter, da die Kinder draußen ihre Nasen mit der
     behandschuhten Hand umschlossen. Sie sagte: Ich habe hier zwei sternförmige Klumpen, du wirst also zwei Male aufpassen müssen,
     daß du dir keine Schmerzen zuziehst. Was zieht deinen Blick eher auf sich, das Dach oder das Erdgeschoßfenster eines Hauses?
     … Ich schaue hoch zu Türmen und leuchtenden Dachziegeln … Du wirst es in diesen Tagen unterlassen, du könntest stolpern und
     fallen. Geh mit durchgestrecktem Rücken, dein Körper muß gerade sein und darf nicht vom Lot abweichen. (Filomena verspricht
     und wirkt keine Wunderheilung, man nennt sie unsere liebe Frau von der Kopernika, weil sie in der Nähe der Totengedenksäule
     an der Kopernikastraße wohnt: Hier empfängt sie einfache Menschen aus dem einfachen Volk. Sieberät sie, und sie finden Halt. Sie bezahlen sie in Naturalien, manchmal wird ihr sogar ein Schuldschein gereicht, der den
     Schuldner dazu verpflichtet, der lieben Frau bei Rohrbruch und Verstopfung in den Rohren zu Hilfe zu eilen. Der listige Kaufmann
     Cyprian hat ihr eine Zeitlang erfolglos nachgestellt. Während eines Telefongesprächs erwähnte er ihren Namen, er machte sich
     über die pensionierte Beamtin lustig, die den Bauern versprechen würde, daß man Sterne pflücken kann. Der Tatar war aber sofort
     Feuer und Flamme.)
    Sie hatte aufgelegt, und Ismael aß die Kringelbrocken einen nach dem anderen auf, er dachte nach, und wie immer, wenn er glaubte,
     ein Rätsel lösen zu müssen, saß er im Schneidersitz auf dem Fußboden. Er dachte nach über das Theater der Verwesung, als das
     ihm dies Leben von seiner seligen Mutter erklärt wurde, harte Worte aus dem Munde einer Frau, der Zierlichkeit über alles
     ging, und der kummervolle Ismael Sobolewski stand wieder auf, schnürte sein Bündel, betrat den Ausstellungsraum für Engel
     und nachdenkliche Propheten mit Dornenkrone, er starrte kurz auf den stummen Diener, das war ein hagerer langbeiniger Apfelpflücker,
     einen Weidenkorb trug er am Rücken, der Heiligenschein bestand aus einem Drahtkranz, an dem glasperlengespickte Vögel hingen,
     er nahm sein Geld in Empfang, wünschte Cyprian viele freudebringende Geschäfte, versprach ihm auch für die Zukunft viele bunte
     keusche Flügelfrauen und verließ den Laden.
     
    Vielmehr machte er einen Schritt über die Schwelle und wich einem Mann aus, der ihn einfach anlächelte, er lächelte zurück,
     und so standen sie sich gegenüber, bis der Mann ihm einen Zettel zum Lesen hinhielt, und weil Ismael jeder Bitte nachkam,
     die nicht gegen die Gebote der Ziemlichkeit und der Zierlichkeit verstieß, bedeutete er dem Fremden mit Handzeichen, ihm zu
     folgen, er würde ihn zu der angegebenen Adresse führen. Der Mann klatschte daraufhin in dieHände, und Ismael war kurz versucht, ihn stehenzulassen und wegzurennen. Statt dessen hakte er sich bei ihm unter, Ferda kam
     nach einem Seitenblick zu dem Schluß, daß er von dem Mongolen nichts zu befürchten hatte, und also liefen sie nebeneinanderher,
     und manch ein Pole wunderte sich über die beiden Männer – er sah: einen Touristen mit einer Fellmütze, die Ohrenklappen standen
     ab, er stemmte sich gegen den leichten Wind. Und er sah: einen Schlupflidpolen, die Krempe seines Filzhuts verschattete sein
     Gesicht, er ging gerade, als wollte er seinen Kopf in den Himmel stecken. Fiedel und Bogen.
    Die beiden Männer machten kurz halt auf dem großen Marktplatz, ein Artist hantierte mit zwei blauen Stangen, zwischen denen
     eine große dünne Schlaufe hing, er tauchte sie ins Seifenwasser, und dann schwenkte er die Stangen über seinem Kopf, eine
     wurmförmige Blase schwebte kurz in der Luft, da aber sprangen die Kinder hoch und brachten sie zum Platzen. Sie hätten noch
     lange zuschauen können, sie waren für einige schöne Augenblicke entrückt, und es mehrte nicht Ismaels Kummer, daß man ihn
     für den Lajkonik hielt, den tatarischen Karnevalskhan auf hölzernem Roß. Jedes Jahr am Donnerstag nach Fronleichnam führte
     der Khan mit dem angeklebten Bart und der Phantasietracht eine Prozession an, und jeder, den er mit seinem Zepter berührte,
     konnte über das ihm beschiedene Glück sicher sein …
    Sobolewski trug keine Narrenkappe und keine roten Schaftstiefel, und er hätte sich nie bereit erklärt, ein seelenloses

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