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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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nachtun will? Libor hat vor Jahren über das Mumienpulver
     gelesen, das die einen verkaufen und die anderen kaufen, eine unsinnige Beschäftigung, es berührt ihn allein der Junge im
     Gewand, den die Erschöpfung aller Kraft beraubt hat, er wird – das verspricht die Aufnahme – sich schon wieder erholen, und
     es werden Amerikaner vor seiner Handelsware stehenbleiben und ihn notfalls aufwecken.
    Viele Schnipsel streuen, viele Schnipsel beschauen, das bedeutet also versinken. Es geschieht in den frühenMorgenstunden, auch der Komponist hat den Weg zu Gretás Lokal gefunden, erst besieht er die Schnipsel des Säufers, dann lächelt
     er der zum Mädchen gewordenen Schauspielerin zu, die mit der Glut ihrer Zigarette gelbbraune Kringel in den Bierdeckel brennt
     – Antonin könnte, wie alle versammelten Männer, sie in ein Gespräch verwickeln, in der Hoffnung, daß sie ihn zum Küssen mit
     nach Hause nimmt. Der Komponist ist jedoch der einzige, dem es nicht schwerfällt, seinen Tag zu verschnipseln, er tut es oft
     genug, und deshalb bleibt er jetzt wach und wachsam: Er braucht keinen, der ihn in den Augenblick zurückkneift. Er benötigt
     keine Fotografie eines Mumienhökers aus einer orientalischen Kolonie, um in ein gestärktes Folklorehemd zu schlüpfen. Natürlich
     zieht Libor alle Blicke auf sich, Kolonie und Kommunismus sind Worte, die man immer noch miteinander in Verbindung bringt,
     Exoten stehen in dem Ruf, Verbote zu mißachten. Du würdest im Westen nur ein schlecht gekleideter Mensch sein, sagt Antonin,
     die schönen Frauen, deren Gefallen du suchst, würden durch dich hindurchsehen, als wärest du durchsichtig. Ich beherrsche
     zwei Fremdsprachen, sagt Libor, also würde ich nach sehr kurzer Zeit wieder sichtbar werden … Und sie sprechen dann doch über
     den jungen ägyptischen Händler, Vilma taucht vom Grund ihrer Tiefe auf, und Libor holt das Foto aus dem Brustbeutel und faltet
     es auseinander: ein Bild aus vielen Schnipseln. Nicht versinken. Nicht ein kleines Vergehen bereuen …
    Und Aneschka? Während sich ihr Geliebter zum halbierten Hund hungert, wird sie ihre zu einem Viertel schönen, zu einem Dreiviertel
     ruhigen Tage leben, sie wird an ihn denken, und aber auch an die Dame Vlasta. Bei ihrem letzten Gespräch hat sie von der Wut
     der Zwerge gesprochen, sie wären zornig, wenn sie aufwachten, sie schliefen daher nicht eng beieinander, sie würden sich sonst
     in aller Herrgottsfrühe prügeln, jeden Morgen. Wie nehmen die Polen ihre Geschichten auf,denkt Aneschka, erklären sie sie für verrückt, oder fangen sie an, in dunkle Winkel ihrer Zimmer zu spähen und das Keckern
     zu hören, von dem sie bislang gedacht haben, daß es der durch Ritzen fegende Wind pfiff?)
     
    Der kummervolle Tatar Ismael Sobolewski aus dem Dorf Bohoniki an der Grenze zu Weißrußland wartete ab, bis der Bus in der
     Haltebucht zum Stehen kam, und als die Türen aufgingen und die Männer und Frauen und Kinder hinausdrängten, blieb er auf seinem
     Platz sitzen, denn nichts konnte ihn locken oder erschüttern, und hätte der Fahrer ihn nicht zur frohen Ankunft beglückwünscht,
     wäre er nicht aufgestanden – nun aber schulterte er den doppelt und dreifach geschnürten Bündel voller Engel und besah nach
     dem Aussteigen die Menschenströme im Omnibusbahnhof, er lüpfte seinen breitkrempigen Filzhut und fuhr sich durch das plattgedrückte
     Haar: Der Schweißriemen hatte ihm ein rotes Mal auf die Stirn gezeichnet, er starrte in den Handspiegel und strich dicke schwarze
     Strähnen ins Gesicht.
    In der Wartehalle, vor der großen Anschlagtafel, forderte ein Polizist ihn auf, kein öffentliches Ärgernis zu erregen, er
     sollte bitte schön seinen Kartoffelsack ins Freie tragen. Das tat der Tatar Ismael denn auch, er war das erste Mal in Krakau,
     der Liebenswürdige überlebt, der Liebenswürdige lebt zwei Stunden länger als der Ungehobelte, diese Worte seines weisen Onkels
     rief er sich in Erinnerung, und da er in falsche Straßen bog, stand er bald in der mehrstöckigen Einkaufshalle Krakowska.
     Gott hat Verkäufern und den Kunden sehr viel Lichtglück geschenkt, dachte er, derart beleuchtet ist man einfach schön. Die
     Beschämung hatte man ihn als Tugend gelehrt, er lief aus keinem besonderen Grund immer wieder rot an, lag es daran, daß seine
     Schlupflider bei den Polinnen für Aufsehen sorgten, oder daß er über die gestiefelten Frauen staunte, sie machten große Schritte,
     als müßten

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