Hiobs Spiel 1 - Frauenmörder (German Edition)
an bis zum Tage ihres Abkratzens eine kreischende Talfahrt durch Wände aus fleischfarbenen Messern. Und das Lied fiel ihr ein, das sie eines Nachts vor einer Chemie-Klassenarbeit, als sie vor lauter Angst nicht hatte schlafen können, heimlich mit ihrem Walkradio eingefangen und anschließend mit ihrem Liebsten, dem Nachtkünstler unter der Decke, diskutiert hatte: »Lächeln« von einer deutschen Gruppe namens Seni, von der weder vorher noch nachher jemals jemand etwas gehört hatte. Und sie dachte an den Fön und die Badewanne, an das Ausschäumen des Wassers, das heiße Zucken ihres Sterbens und diese furchtbare, schmerzhafte Traurigkeit, und sie weinte wieder, weil sie sich nicht entschließen konnte, es endlich zu tun und wie, kurzerhand Schluss zu machen, und sie ärgerte sich deshalb über sich selbst, und das war das Schlimmste, denn ihr blieb somit nicht einmal der Trost des Selbstmitleids.
Wie war es nur möglich, dass jemand, der Schluss machen wollte, noch so viel empfand für Pappi oder für Yvonne oder für Pferde oder für richtige Musik? Die Jungs machten sich alle lustig über die Platten von Tori Amos und Jane Siberry und Sarah McLachlan, aber sie hatte heulen müssen, als sie zum ersten Mal das Lied gehört hatte, in dem Tori ihre Vergewaltigung beschrieb. Warum war es so grausam, so schwer, so unmöglich, einfach Schluss zu machen? Das war doch nicht fair. Man hatte ohnehin schon keine Möglichkeit, sich auszusuchen, ob man überhaupt auf diese Welt kommen wollte oder nicht, und jetzt stellte sie verzweifelt fest, dass man auch keine Chance hatte zu gehen, wann man wollte.
Sie bekam die Ahnung, dass es möglich war, vor Schmerz zu sterben.
Das Wasser wurde langsam kalt, trotz ihrer heißen Tränen darin, aber sie war nicht in der Lage, die Wanne zu verlassen, vielleicht nie mehr. Dies war der letzte warme Ort außer ihrem Herzen, und damit es so blieb, ließ sie dampfend heißes Wasser aus dem Silberhahn nachquellen. Als sie den Hahn wieder zudrehte, die Luft neu beschlagen war und sie mit glänzendem Gesicht in den knisternd rauschenden Schaum atmete, stand plötzlich dieser Mann neben ihr.
Es war nicht Pappi, nicht Kai, auch nicht Kessler oder der Nachtkünstler aus ihren Träumen – es war ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, und er stand hier, in ihrem Badezimmer, angezogen mit dunklen Klamotten neben ihrer Badewanne und sagte: »Hab keine Angst vor mir, Nicole. Ich bin auf deiner Seite.« Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie versuchte instinktiv, vor ihm wegzurutschen, war aber in der Wanne gefangen wie ein Goldfisch im Glas.
Der Fremde grinste. »Solange du in diesen Bergen von Schaum verborgen bist, ist das undurchsichtiger als zwei Pelzmäntel übereinander. Ich krieg dich also gar nicht unbekleidet zu Gesicht, mach dir keine Sorgen.«
»Wie ... sind Sie hier reingekommen?«
»Durch eine Tür.«
»Die ist aber abgeschlossen. Das kann gar nicht sein.«
»Ich meinte ja auch nicht die Tür da drüben. Manchmal bringe ich meine eigene Tür mit, wenn ich irgendwo hinwill.«
»Sie sind ein Dieb oder Einbrecher oder so was, aber bei uns gibt’s nichts zu holen. Und wenn Sie mich entführen wollen – für mich wird keiner Lösegeld zahlen. Da haben Sie sich die falsche Familie ausgesucht.«
Der fremde Mann lächelte und ging im Badezimmer auf und ab. »Es gibt ganz gewiss eine ganze Menge Männer mit gutem Geschmack, die eine Menge Geld zahlen würden – für ein hübsches Mädchen wie dich.«
»Wenn Sie mich anfassen, schreie ich.«
Er blieb vor dem Spiegel stehen, der so beschlagen war, dass man überhaupt nichts in ihm sehen konnte, und kämmte sich mit den Fingern, in die blinde Fläche schauend, seine schulterlangen Haare nach hinten. »Das ist eine interessante Idee mit dem Schreien. Dein Bruder ist gerade bei Track 6 der letzten Megadeth-CD. Ich denke, er würde es nicht mal bemerken, wenn ein Belugaflugzeug auf euer Haus krachen würde. Die Nachbarn links sind gerade mit Zanken beschäftigt und würden höchstens versuchen, noch lauter zu schreien als du. Und die Nachbarn rechts kommen erst übermorgen aus dem Urlaub zurück.«
»Woher wissen Sie das alles? Beobachten Sie das Haus schon so lange?«
»Gar nicht. Ich bin nicht der beobachtende Typ.« Er wandte ihr sein Gesicht zu. »Ich denke, ich hätt’s auch nicht ertragen zu beobachten, was Dieter Kessler heute Vormittag mit dir angestellt hat. Hätt mir das Herz gebrochen.«
Nicoles staunens- und
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